„Gegen eine neue Wahrheit ist nichts schädlicher als ein alter Irrtum.“ (Goethe)
Es ist der Oktober des Jahres 2016. Die LG Telis Finanz feiert ein erfolgreiches Olympiajahr mit einer großen Gala. Alle Vereinsmitglieder sind eingeladen. Nach zahlreichen Ehrungen von Leistungen der Athleten betritt Steffi die Bühne. Aus dem Publikum blicken unzählige Augen zu ihr hinauf. Niemand ahnt, welche Neuigkeiten die erfahrene und hoch geschätzte Teamkameradin verkünden möchte. Vor einem Jahr hat sie den dritten Platz bei den Deutschen Marathonmeisterschaften in Frankfurt mit einer sensationellen Bestzeit gewonnen. Seitdem ist es allerdings ruhig um sie geworden. In dieser Saison hat man sportlich nichts von ihr gehört. Nun ergreift sie das Wort. Ihre Stimme ist wie immer hell und glockenklar. Sie bricht kein einziges Mal, obwohl man merkt, wie schwer es ihr fällt, auszusprechen, was ihr nun schon lange auf der Seele brennt.
„Wenn man einen Marathon läuft, ist es ja normal, dass man ein bisschen Probleme hat“, erklärt sie im Interview wenige Wochen später. „Nach meinem Riesen-Erfolg bei der DM in Frankfurt habe ich aber irgendwie gemerkt: Da stimmt etwas nicht. Diese Schmerzen sind anders.“ Was nun folgte war eine Leidensgeschichte, die sie durch das Hin und Her, die lange Unsicherheit, stark mitgenommen hat: „Ich glaube, ich bin von Pontius zu Pilatus gerannt, war bei unzähligen Ärzten und es wurde einfach nicht besser.“
Zwar verlief Steffis Karriere selten beschwerdefrei und ohne verletzungsbedingte Trainingsausfälle. Oft gab es Probleme hier und da, immer wieder plagten sie und ihren Trainer Kurt Ring Sorgen um den zarten Läuferinnenkörper, der doch so schnell Warnsignale sendete, wenn ihm mal wieder alles ein bisschen zu viel wurde. Aber man hatte es doch immer irgendwie wieder in den Griff bekommen. Steffi hatte gelernt, auf ihren Körper zu hören, ihm Zeit zu geben, sich zu erholen und wieder zu Kräften zu kommen. Eine Fähigkeit, die sie irgendwann beherrschte wie keine andere. Das Gelernte aus vielen kleinen vorausgegangenen Fehlern: „Du kannst nicht immer draufhauen. Weitertrainieren und den Schmerz ignorieren, das darf man nicht machen. Der Körper zeigt eindeutig, wann er Ruhe braucht.“
Aber dieses Mal war es eben keine Überlastung. Wir sprechen hier von einer zwei Zentimeter großen Zyste im Gelenk. Ein irreversibler Hüftschaden. Ein außerordentlicher Befund für mein Alter“, beschreibt Steffi die niederschmetternde Gewissheit, die nach langer Untersuchungs-Odyssee erst im September diesen Jahres feststand. Diagnostiziert von den besten Experten auf dem Gebiet der Sportmedizin. „Eigentlich darf ich das Gelenk gar keinen stoßmäßigen Belastungen mehr aussetzen“, meint sie ernüchtert, „die Ärzte meinen, vielleicht einmal alle zwei, drei Wochen. Aber das Kilometerpensum eines Marathon-Trainings ist absolut undenkbar.“ Als sie zum ersten Mal die Bilder der Röntgen- und Kernspinaufnahmen gesehen hatte, dachte sie nur: „Lieber Gott was ist das?“
Es war eine neue Wahrheit. Eine, die Steffi erst akzeptieren musste. Lernen, mit ihr umzugehen. Denn gegen eine neue Wahrheit ist nichts schädlicher als ein alter Irrtum. Auf den Körper zu hören, ihm Zeit zu geben, das hatte Steffi mittlerweile gelernt. Nur dass sie nun wusste, dass er sich dieses Mal nicht mehr erholen würde.
Die Konsequenz, die Steffi daraus ziehen muss, die Entscheidung, die so lange schon über ihr hing wie ein Damokles-Schwert, der Gedanke daran, loszulassen – all das war nur eine Frage der Zeit. Nun ist es so weit: Steffi spricht in klaren Worten zu ihren Vereinskameraden. Die Teilnahme bei der Marathon-DM vor einem Jahr war ihre letzte. Steffi wird sich vom Leistungssport verabschieden. Sie hat nun den größten und endgültigsten Schritt ihrer Karriere hinter sich gebracht. Der Applaus für diesen weisen Entschluss, er ist stürmisch und kommt von Herzen. Doch Steffi hat keinen Grund zu jubeln. Sie verlässt nicht nur die kleine Bühne der LG-Jahresfeier, sondern auch die große Bühne des Marathon-Trubels. Ganz still und leise, wie es schon immer ihre Art war. Und trotzdem setzt sie ihren Weg fort.
Stehenbleiben und aufgeben war noch nie eine Option für die Kämpferin, die das scheinbar Unmögliche möglich machen kann.
Wo ihr Weg nun hinführt? „Momentan bin ich noch in der Phase, in der ich mich daran gewöhnen muss, dass ich nicht mehr laufen soll. Oder darf. Oder kann?“ Sie zögert.
Natürlich kann sie noch laufen: „Manchmal geht es auch einfach nicht anders. Dann muss ich die Schuhe anziehen und losrennen. Das klappt ja schon irgendwie. Nur danach bereue ich es eben.“ Es ist ein ständiges Abwägen: Welcher Schmerz wiegt mehr? Der, das Laufen aufzugeben oder der, den die Laufschritte in der Hüfte verursachen.
Aus dem Gröbsten ist sie heraus, fühlt: „Die Wogen sind geglättet, das Chaos in meinem Kopf ist so gut wie beseitigt.“ Das Schlimmste scheint überstanden, auch wenn Steffi gestehen muss: „Ich habe so viel geweint in den letzten Monaten. Es gab Momente, da hat es mich wirklich zerrissen.“
Für sie ist es nicht leicht, das Laufen, ihre Leidenschaft, für die sie so brennt, nun einfach so hinter sich zu lassen. „Ich lenke mich mit allen möglichen Sportarten ab.“ Das Wort „möglich“ bekommt bei einem irreversiblen Hüftschaden plötzlich eine ganz neue Bedeutung. „Im Sommer bin ich zum Beispiel viel Rad gefahren. Ich kann sogar gut Bergsteigen. Da habe ich überraschenderweise keine Schmerzen. Ich mache teilweise richtig lange Touren, bin bis zu sechs Stunden unterwegs. Ein großer Trost ist für mich auch der Hund meiner Nachbarn. Ich genieße es, mit ihm spazieren zu gehen. Da vergisst man dann doch für eine kurze Zeit die Sorgen“, erzählt sie. Gesellschaft, Trost und Zuspruch tun ihr gut.
Aber auch selbst möchte sie nun etwas zurückgeben: Zeit, die früher in anstrengendes und aufwändiges Training investiert wurde, kann nun für andere Dinge genutzt werden: „Ich bin nun viel öfter für meine Familie und für meinen Mann Kris da“, erzählt Steffi. Sie empfindet größte Dankbarkeit, wenn sie ihre Leistungssportkarriere Revue passieren lässt: „Er hat mir die Jahre so viel Geduld entgegengebracht. Es hat sich so lange alles nur um mich gedreht.“
Tatsächlich war Kris immer ihr unterstützender, aufmunternder und ebenso tröstender Begleiter. Ihr Läuferleben war mindestens so sehr geprägt von den vielen Hochs und Tiefs, wie auch von dieser einen wichtigsten Person, die nie von ihrer Seite gewichen ist.
Missen möchte sie deshalb keinen Moment: „Es waren unheimlich reiche Jahre, eine sehr emotionale und prägende Zeit. Wenn ich so weit bin, will ich deshalb ganz bestimmt an die Laufstrecken zurückkehren – wenn auch nur als begeisterte Zuschauerin.“
Nun braucht sie aber erst einmal Abstand. Und Geduld. Geduld, um sich in Ruhe und Schritt für Schritt vom Laufen zu verabschieden. „Ich habe schließlich gelernt, dass ich auf meinen Körper hören muss. So wie ich bei früheren Verletzungen Rücksicht nehmen musste, werde ich das auch jetzt tun. So gut es eben geht.“ Aber warum sollte das ausgerechnet Steffi nicht schaffen? Sie wird noch einmal das Unmögliche möglich machen.
Dieser Text ist die zweite Folge einer zweiteiligen Portrait-Serie. Folge eins („Die vielen Schritte einer stillen Karriere“) ist am Dienstag an selber Stelle erschienen.
Ein großartiger und feinfühliger Bericht ! Der Marathonläuferin Steffi Volke die besten Wünsche für das Leben (fast) ohne Laufen ! „In Wahrheit nimmt ein Marathon keine Ende…Seine Auswirkungen bleiben ein Leben lang im Körper, im Gedächtnis…Einen Marathon zu beenden heißt, ein Stückchen Unsterblichkeit zu erlangen…“ Übrigens: Auf dem Poster des München-Marathons 2015 sind die jubelnde Steffi Volke und im Bild daneben der Verfasser (Gruppenfoto) dieser Zeilen auf einem „sporthistorischen“ Bild (1. München-Marathon) zu sehen.