Ich halte das Buch mit der prominent platzierten Zahl 42,195 in roten Ziffern in den Händen. Marathon. Das ist mein Thema, mein Leben und meine große Leidenschaft. Ich freue mich auf das Buch und fange an zu lesen. Und prompt komme ich am Ende des ersten Kapitels ins Staunen: „Nicht geschrieben habe ich für all jene, die bei einem Rennen in der ersten Welle starten; sie laufen und leben in einer andren Welt, die ich mit PB 1:40 und 3:52 gar nicht beurteilen kann.“ Baam, das saß. Ich fühle mich mit meiner Marathonbestzeit sogleich als Außenseiter. Und auf dem zweiten Blick erkenne ich eine Chance. Ist die Welt von uns Profiläufern so anders als die der Freizeitläufer? Denken, fühlen wir anders und laufen wir nicht nur schneller sondern auch in einer fremden Welt? Ich bin gespannt welche Antworten mir das Buch geben wird.
Das Buch besteht aus 45 Kapiteln. Starterbereich, Start, Km 1-42 und Ziel. Die Länge der Kapitel variiert. Wohl ähnlich, wie die Kilometer im Marathon unterschiedlich vorübergehen. Km 30 besteht z.B. aus einem Gedicht, und die letzte Strophe hat es mir angetan. „Wir schauten über die Elbe – ins Alte Land, woher die Äpfel kamen – kauend miteinander schweigend, schweigend miteinander kauend – und waren glücklich – daß keiner kommen wollte – uns zu entdecken.“ Das Gefühl nach einem Lauf neben dem Laufkameraden zu sitzen und den Moment zu genießen, das eint alle Läufer. Diese Sätze fühle ich, beim Lesen schießen mir sofort erlebte Momente ins Gedächtnis.
Das Buch befasst sich mit allen Themen rund ums Laufen. Es ist kein Trainings- oder Ernährungsratgeber, und doch gibt es wertvolle Tipps, scheinbar ganz nebenbei. Der Autor schreibt, was er und seine Laufkameraden vom Laufen und beim Laufen denken. So sucht er z.B. nach einem Wort, dass die vertraute und besondere Beziehung zum Laufpartner beschreibt. Der Laufpartner ist nicht unbedingt ein Freund. Er ist gleichzeitig mehr und auch weniger. Mir gefallen die Gedankengänge und ich könnte sofort mitphilosophieren.
Als Leser macht es Spaß, den Gedankengängen und Läufen des Autors zu folgen. Mich hat schon immer die Faszination der Freizeitläufer für Finisher-Medaillen fasziniert, nun kann ich sie besser verstehen, jedoch noch immer nicht nachvollziehen. Auch wenn ich kein Freizeitläufer bin, bereitet mir das Lesen des Buches Freude. „Einmal Läufer, immer Läufer? Es scheint unmöglich, aus dem Läuferleben je wieder auszusteigen.“
Politycki, der seit vielen Jahren als Schritsteller tätig ist, vergleicht das Schreiben eines Romans mit dem Laufen eines Marathons. „Der Langläufer unter den Schriftstellern denkt seinen Text nicht vom Anfang, sondern vom Schluß her. (…) Vom ersten Satz an arbeitet er nicht nur irgendwie kausal beseelt voran, sondern gezielt auf die letzte Szene zu, die letzte Seite, den letzten Satz.“ In der momentanen weltpolitischen Situation ist der letzte Absatz in diesem Buch wie ein Paukenschlag. „Man wird sich im Rückblick vielleicht fragen, wie wir überhaupt jahrzehntelang so leben – und eine solch offensichtliche Nebensache wie Marathon als Hauptsache betreiben durften. (…) Würden radikalere Kulturen auch nur annähernd so konsequent für Marathon trainieren wie die westlichen, wir hätten tatsächlich bald eine bessere Welt. Bewahren wir die unsre, solange es geht, und trainieren wir weiter.“
Matthias Politycki: 42,195.
Warum wir Marathon laufen und was wir dabei denken.
315 Seiten
Gebunden, € 20,- (D) / € 20,60 (A) / sFr 28,90
ISBN: 978-3-455-50338-8
Erschienen bei Hoffmann und Campe.