Heute vor einem Jahr habe ich mit 65:09min in Barcelona den Halbmarathon Weltrekord von Florence Kiplagat egalisiert. Hätte ich auf den letzten 5km gefühlt nicht ganz alleine gegen einen Orkan gekämpft, wie einst Don Quijote gegen Windmühlen.
Heute vor einem Jahr habe ich mit 65:09min in Barcelona den Halbmarathon Weltrekord von Florence Kiplagat egalisiert. Hätte ich auf den letzten 5km gefühlt nicht ganz alleine gegen einen Orkan gekämpft, wie einst Don Quijote gegen Windmühlen, hätte ich Kiplagats Weltrekord aus dem Vorjahr an gleicher Stelle pulverisiert. Aber hätte, hätte… Immerhin habe ich die Dame an diesem Tag im direkten Duell über vier Minuten distanziert und meine Männlichkeit zumindest etwas gebauchpinselt.
In der deutschen Bestenliste 2016 war meine Zeit (bereinigt um Afrikaner ohne Staatsangehörigkeit) immerhin für Platz neun gut. An diesem Punkt will ich einhaken, zu den besten Zehn in Deutschland zu gehören ist also gerade gut genug, um den Frauenweltrekord zu egalisieren? Schlimmer noch, vor zwei Tagen hat Peres Jepchirchir beim Ras Al Khaimah Halbmarathon den Rekord nochmal um drei Sekunden gedrückt und ist nun alleinige Inhaberin mit 65:06min. Muss ich also im Zuge dieser Selbstreflexion über geschlechtsangleichende Maßnahmen nachdenken? Müssen andere deutsche Läufer, die als Elite oder Profis angesehen werden das dann auch? Zumindest lädt es auf den ersten Blick dazu ein nochmals über die Forderungen der Athleten zur Spitzensportförderung nachzudenken.
Wie viele echte Spitzensportler hat der deutsche Mittel- und Langstreckenlauf derzeit denn überhaupt? Da wären Arne Gabius und Richard Ringer als erstes zu nennen. In meinen Augen die einzigen Zwei mit „Worldbeater“ Qualitäten oder weniger heroisch ausgedrückt Medaillenchancen. Beide haben das mehrfach bewiesen und sind i.d.R. auf den Punkt fit, Ausreiser nach unten kommen höchst selten vor. Dass Florian Orth nah dran ist in Zukunft in diese Riege aufzurücken, hat er in Rio gezeigt. Vor allem seine Unterdistanzleistung mit 3:34min über 1.500m spricht für einen 5.000m oder sogar 10.000m Läufer mit internationaler Endkampfchance, wie der DLV es so schön beschreibt und in Europa mit erheblichem Medaillenpotential, nur zu dumm, dass er überhaupt nicht im Kader ist, oder? Aber die Kaderpolitik des DLV zu verstehen habe ich schon lange aufgegeben.
Reihe 2
Dahinter kommt die zweite Reihe, 29:00min und schneller über 10.000m, 63-64min im Halbmarathon, oder 2:14-12h Marathon. Immer für einen Nationalmannschaftseinsatz gut, mitunter sogar für Olympia, nüchtern betrachtet zu mehr aber auch nicht, ohne dabei abfällig urteilen zu wollen. Die Jungs müssen sich trotz veritabler Leistungen ordentlich strecken, um an einem nicht ganz perfekten Tag bis zur Hälfte von Arnes deutschem Marathonrekord mitlaufen zu können. Pflieger, Pfeiffer, Flügel, Stöckert, Sperrlich, Ulizcka, Fehr, wie gesagt alles sehr gute Läufer, aber den Bahnläufern fehlt der zum Großteil genetisch veranlagten Killer-Kick, wenn es in die letzte Runde geht und den Straßenläufern die extra Portion aerobe Mobilisationsfähigkeit.
Timo Benitz ist in meinen Augen ein Sonderfall, ihm fehlt es ganz bestimmt nicht am Killerinstinkt oder Kick hinten raus, um zu den ganz Großen zu gehören, doch aufgrund seiner Verletzungsanfälligkeit leider an der nötigen Konstanz. Dass mit ihm immer zu rechnen ist, wenn er nur ein paar Wochen geregeltes Training absolvieren kann, hat sein Einstieg in die Hallensaison wieder einmal eindrucksvoll gezeigt. Talent vergeht eben nicht, aber um es mit dem Motto von Julian Flügel auszudrücken: „Hard work beats talent, if talent doesn`t work hard“. Damit will ich nicht einmal Faulheit unterstellen, sondern vielmehr ausdrücken, dass ein Talent eben auch die nötige Belastungsverträglichkeit ausmacht, sonst wird man langfristig auf keiner internationalen Bühne Erfolg haben können.
Reihe drei: Gröschel, Nehrkamp, Stützel, Arbogast und meine Wenigkeit, ohne Anspruch auf vollständige Nennung aller Vertreter dieser Riege zu erheben. Wir sind immer für Top8 Platzierungen bei Deutschen Meisterschaften gut und manchmal reicht es auch zu etwas mehr, wenn wir von der Abwesenheit Anderer profitieren. Unsere Bestzeiten können sich sehen lassen, (deutlich) unter 30min/10.000m oder 14min/5000m, zumeist aber „unter Laborbedingungen“ in Koblenz, Oordegem oder Stanford erzielt. Um es schonungslos auf den Punkt zu bringen, wir kämpfen um die Frauenweltrekorde.
Reihe 4.
Aber zu Glück gibt es noch eine vierte Reihe, auf die wir zeigen können, um uns etwas besser zu fühlen. Schreindl, Straßner, Koller, Blum und Co. können an guten Tagen beispielsweise auch unter 30min oder 65er Halbmarathons laufen. Rennen gewinnen sie i.d.R. aber nicht, ihnen fehlt es schlichtweg an den Unterdistanzen. Wer nicht unter 14min über 5000m oder wenigstens 3:50min über 1500m laufen kann, bekommt in der Schlussphase fast immer Probleme seine Gegner in Schach zu halten. Also Genzebe Dibaba sollte man noch im Griff haben, wenn man Top8 in Deutschland sein will. Wobei ich in ihrem Fall nochmals die Geschlechterfrage stellen muss bzw. ernsthaft hinterfragen, wer von uns, warum mehr Bartwuchs hat.
Und die Moral von dieser pessimistisch-realistischen Bestandsaufnahme der Deutschen Männer Laufelite? Der deutsche Spitzensport hat noch einen sehr, sehr weiten Weg vor sich, wenn er tatsächlich beabsichtigt langfristig im internationalen Geschäft wieder vorne mitzuspielen. Amerikaner, Neuseeländer, Australier und Briten zeigen, dass es möglich ist. Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als wäre kein förderwürdiges Athletenmaterial vorhanden. Doch die Krux liegt in der Jahrelang verschleppten Erneuerung des Systems. Deutsche Sportler bekommen bestenfalls nennenswerte Unterstützung, wenn sie bereits ganz vorne mitspielen. Doch selbst das ist in unserem irrsinnigen System nicht garantiert, wie der Fall Orth zeigt. Die zweite, dritte, vierte Reihe hat keine Chance sich auf den Sport zu konzentrieren und eventuell vorhandene Potentiale zu entwickeln. Wir sind alle Leistungssportler aber keine Profis, die davon leben. Der ideale Läuferalltag Train – Eat – Sleep – Repeat bleibt bis Dato den meisten von uns verwehrt. Die „duale Karriere“ sollte vom aktuellen Sportstudio zum Unwort des Jahres auserkoren werden, ist sie doch nichts anderes als ein Euphemismus der Funktionäre für „kümmert euch selbst, von uns könnt ihr weder jetzt noch, in Zukunft etwas erwarten“.
Erst wenn die Rahmenbedingungen für Training, Regeneration und medizinische Versorgung wieder auf Weltniveau sind, können wir auch wieder Leistungen auf Weltniveau fordern. Bis dahin gehört aber jeder Lichtblick gefördert, statt mit gerümpfter Nase links liegen gelassen.
Bisher scheint keinem Bundestrainer das Talent von Simon Boch aufgefallen zu sein, oder sie ignorieren es einfach. Ohne einen Verein wie Regensburg wäre er wahrscheinlich vollkommen aufgeschmissen. In anderen Ländern würde man von Verbandsseite alles daran setzen seine Verletzungsserie zu beenden. Aber bei uns muss man einstweilen mit Wohnsitz in Hessen und Verein in Bayern zweimal pro Woche 400km nach München pendeln um seine 20min Kader-Physio einzulösen…
Ich hoffe nun, dass sich keiner meiner genannten Läuferkollegen persönlich angegriffen oder herabgewürdigt fühlt. Ich wollte vielmehr deutlich machen, wo Läufer-Deutschland aktuell steht und dass sich ohne grundlegende Veränderungen im Fördersystem daran nichts ändern wird.
Den meisten dürften die (Selbst)Ironie im Text nicht entgangen sein, den anderen sei es hiermit gesagt, das Ganze ist auch mit einem Augenzwinkern zu lesen.
Also Cojones ab oder doch dran lassen?, die Entscheidung wird zumindest in meinem Fall erst einmal auf den 9. April vertagt, dann hole ich mir bei den Deutschen Halbmarathon Meisterschaften in Hannover hoffentlich meinen Weltrekord zurück.
Euer Sebastian Reinwand