Prinzipiell gehöre ich zu den 60 Prozent der Larasch-Leser, die laut unserer Umfrage Kompressionsbekleidung nichts abgewinnen können.
Ein bisschen zähle ich aber auch zu den 40 Prozent, die solche Kleidung tragen. Denn „tragen“ sagt ja noch nicht so viel über die tatsächliche Häufigkeit, geschweige denn den Grad der Überzeugung aus.
…Oder?
In den letzten Jahren war ich jedenfalls schon öfter mal pro und dann wieder kontra Kompression. Entscheidet also am besten ihr nach dem Lesen, wo ich mich einsortieren soll…
Das erste Mal ist mir ein Kompressionsstrumpf über den Weg gelaufen, als ich noch gar nicht Läuferin war. Und so viel kann ich sagen: Es war definitiv keine Liebe auf den ersten Blick.
Ich hatte mir nämlich unglücklicherweise den Fuß gebrochen und musste wochenlang einen furchtbar hässlichen hautfarbenen Kniestrumpf unter einem noch hässlicheren Entlastungsschuh tragen, um das Thrombose-Risiko zu verkleinern. Das scheinbar unvermeidbare Waden-Accessoire war für mich als damals vierzehnjähriges pubertierendes Mädchen nicht nur modisch eine echte Katastrophe, sondern auch in Anbetracht der deutlich gesteigerten Transpiration: Eigentlich hätte ich am liebsten jeden Tag lange Hosen getragen, um das extra für mich ausgemessen und angefertigte Teil zu verstecken. Aber im Juni bei knapp dreißig Grad stelle das keine wirkliche Option dar. Ich war also heilfroh, als ich das Ding endlich los wurde und es verschwand denkbar schnell irgendwo in den Untiefen meines Kleiderschranks.
Daran zurückerinnert habe ich mich erst einige Zeit später, als ich begann, regelmäßig ins Lauftraining zu gehen. Dort beobachtete ich immer wieder Trainingskollegen mit den damals, vor allem in unübersehbaren Neonfarben getragenen, Kompressionssocken einer bestimmten Marke. Da konnte mein ohnehin ungeliebtes hautfarbenes Exemplar natürlich nicht mithalten. Auf die Frage, ob man mir denn etwas „coolere“ Strümpfe beschaffen könnte, erteilte mir meine Mutter damals allerdings eine klare Absage: „Du hast doch welche, die extra auf dich zugeschnitten sind. Nimm doch die.“
Für mich ein Ding der Unmöglichkeit und so hatte sich das Thema aufgrund der Diskrepanz des doch recht stolzen Preises der von mir begehrten Kompressionssocken in Leuchtfarben und den dafür theoretisch verfügbaren Taschengeldersparnissen recht schnell wieder erledigt.
Wenig später wäre die auf mich abgestimmte Socken-Passform zwar aufgrund des spät, aber dafür umso dramatischer, einsetzenden Wachstumsschubs kein Argument mehr für meine Mutter gewesen. Als meine Endgröße von stattlichen 1,73m erreicht war, hatte mein Interesse an unübersehbaren Neon-Socken allerdings schon wieder deutlich nachgelassen.
Ein medizinischer oder trainingstechnischer Vorteil war mir zu diesem und auch zu späterem Zeitpunkt sowieso nicht erkennbar gewesen. Ich empfand lange Socken wie schon viel früher bei meinem Fußbruch mehr als Schweißverstärker denn als zweckmäßiges Utensil für den Trainings- oder gar Wettkampfalltag.
Doch schließlich sollte der Tag kommen, an dem mein Verhältnis zu Kompressionsstrümpfen ungewollt erneut etwas inniger werden sollte: In Vorbereitung auf die Europameisterschaften in Amsterdam 2016 zog ich mir aufgrund einer falschen Schuh-Schnürung eine hartnäckige Sehnenscheidenentzündung im Schienbein zu. Die Verletzung musste behandelt und das Bein im Prinzip ständig hochgelagert werden. Da das im normalen Alltag kaum möglich war, sollte ich zumindest rund um die Uhr Kompressionssocken tragen.
Und so suchte ich letzten Endes doch widerwillig ein Geschäft auf, um ein Paar neuer Socken zu erwerben, die dann bestenfalls auch für das Europameisterschafts-Rennen zu den Farben des Nationaltrikots passten. Es gestaltete sich allerdings wirklich schwer, ein Paar zu finden, das für mich geeignet war. Meine Entscheidung fiel auf ein schwarzes Exemplar ohne von außen erkennbare Marke. Wenig später wurde mir allerdings eröffnet, dass ich vor und während der Europameisterschaft ausschließlich die vom Ausstatter der DLV-Einkleidung vorgegebenen Socken tragen dürfe. Hätte man mir das mal vorher gesagt. Mit 19 Jahren war ich doch noch ein Rookie und mein Taschengeld noch immer nicht so üppig, das ich mir mal eben ein Paar Kompressionssocken kaufe, um es dann nicht mal tragen zu dürfen. Schön blöd.
Außerdem stand ich nun vor ein noch viel größeren Problem: In der Nationalmannschaftskollektion gab es nur eine „einfache“ Größentabelle von XS bis XL. Und was macht ein Mädchen mit eher unterdurchschnittlich dünnen Läuferwaden, das aber gleichzeitig relativ groß ist und zu allem Überfluss Füße mit Schuhgröße 42 hat? Da sehnt man sich auf einmal wieder individuell zugeschnittene Strümpfe herbei. Von mir aus auch hautfarbene.
Ich musste nun aber wohl oder übel zwischen angemessener Kompression in der Wade in Kombination mit zu wenig Platz für meine Füße und einem zu weitem Wadenumfang mit passender Schuhgröße entscheiden. Ich wählte die erste Variante, wodurch ich trotz am Tag des Rennens Einlaufen und Aufwärmen schon vor dem Start kalte und gefühllose Füße hatte. Die Durchblutung war durch die Socken längst abgeschnürt.
Nach dieser unschönen Erfahrung wollte ich endgültig nichts mehr von der überall in höchsten Tönen gelobten Effektivität eines dämlichen Kniestrumpfs wissen und diesen endgültig als wirkungslose Marketing-Falle abstempeln. Doch es sollte erneut anders kommen.
Bei Flügen, langen Autofahrten und teilweise schon nach stundenlangem Sitzen in der Uni-Bibliothek stellte ich nämlich regelmäßig fest, dass sich meine Waden ziemlich dick und unbeweglich anfühlten. Scheinbar versackte in meinem Körper ungewöhnlich schnell das Wasser, was vor allem am Ende von Reisen, deren Ziel nicht selten ein Wettkampfort war, unangenehme Auswirkungen hatte: Die ersten Laufschritte fühlten sich an wie… Nein, eigentlich fühlten sie sich wie überhaupt nichts an, weil ich durch die Wassereinlagerungen jegliches Gespür in den Beinen verloren hatte.
Das sah zwar lustig aus, war aber kein wirklicher Spaß. Manchmal dauerte es nicht nur Stunden sondern mehrere Tage, bis die Beine wieder einigermaßen normal waren. Obwohl ich wirklich vieles ausprobiert habe: Während der Fahrten legte ich, so gut es möglich war, die Beine nach oben. Bei jeder Rast-Pause blamierte ich mich auf Auto- und Bahnhöfen, wenn ich wie eine Irre durch die Gegend hüpfte, Kniehebelauf machte, Storchengang oder was mir sonst noch einfiel. Nach Ende der Reise ging ich spät abends noch laufen oder machte zumindest eine halbe Stunde eine Kerze auf der Matraze meines Hotelbetts. Das Wenigste davon hat wirklich geholfen.
Am Schlimmsten kämpfte ich mit dieser Eigenart des Körpers, die doch in der Regel erst bei Frauen gesetzten Alters auftritt, im vergangenen Februar (im zarten Alter von 21 Jahren): Wir waren erst wenige Tage vor den Deutschen Halbmarathon-Meisterschaften, die in Hannover stattfanden, aus dem Trainingslager in Italien abgereist. Auf der Heimfahrt nach Regensburg spielte sich wieder das gewohnte Szenario ab: Dicke, gefühllose Beine. Und das nicht nur in den Waden, sondern sogar in den Oberschenkeln. Als eine meiner Trainingskolleginnen sah, wie ich verzweifelt versuchte, mich in eine Lauftight zu quetschen, die mir wenige Tage vorher noch problemlos gepasst hatte, prustete sie los: „Hast du auf der Heimfahrt zu viel bei McDonalds gegessen?“
Nein, das hatte ich nicht, sondern stattdessen ein ernstzunehmendes Problem: Als Nächstes stand ja nun noch die zweite Fahrt von Regensburg zur Meisterschaft nach Hannover an. Würden meine Wasserbeine noch schlimmer werden? Würde ich überhaupt starten können? Weniger als 24 Stunden zwischen Ankunft und Rennen erschienen mir recht kurz, um das Problem vor Ort noch zu lösen. Was also tun?
Ich sah meine letzte Rettung in der Flucht zur Kompression: In meiner Not grub ich am Abend vor der Fahrt meinen Kleiderschrank um und suchte verzweifelt nach den alten, ungeliebten hautfarbenen Strümpfen. Auch wenn sie garantiert nicht mehr passen würden – besser als Nichts!
Die Dinger blieben verschwunden. Hatte ich sie irgendwann bei einem Umzug doch schon entsorgt? Doch stattdessen fiel mir plötzlich ein schwarzes Paar Socken in die Hände: Richtig, die Kompressionsstrümpfe, die ich mir eigentlich für die EM gekauft hatte und dann nicht tragen durfte! Ich hatte sie schon komplett vergessen!
Es klingt vielleicht bescheuert, aber ich habe mich noch nie so sehr über Kniestrümpfe gefreut. Sie passten mir gut, zum ersten Mal hatte ich auch keine kalten Füße und nach der Fahrt, in Hannover angekommen, waren die Beine keinesfalls schlechter, sondern tatsächlich schon wieder ein gutes Stück besser. Ich stand am kommenden Tag ohne Wasserbeine am Start und machte ein gutes Rennen. Ob es nun die Wirkung der Kompressionssocken oder Zufall war, will ich gar nicht wissen. Dafür bin ich zu abergläubisch: Ich habe die Socken jetzt bei Reisen immer an. Auch im Sommer. Denn lieber habe ich Schweiß auf den Beinen als Wasser in den Beinen.
Aber vielleicht ändert sich das auch schnell wieder mit einem neuen Kapitel in der On-Off-Beziehung zwischen den Kompressionsstrümpfen und mir…