Der Schweizer Langstreckenläufer Julien Wanders schaffte im vergangenen Winter den Durchbruch in der Straßenlauf-Weltspitze. Nach mehreren beeindruckenden Siegen bei Stadtläufen in der Schweiz verbesserte der jetzt 22-jährige Genfer am Silvestertag in dem Pariser Vorort Houilles zum bereits dritten Mal den Schweizer Männer-Rekord im 10km-Straßenlauf, wobei er sich in 28:02 min gegen Weltklasse-Konkurrenz aus Afrika den Sieg holte.
Zuletzt sorgte er im Halbmarathon für Furore. Nachdem er im März 2017 bereits mit 61:43 min ein sehr starkes Debüt in Mailand abgeliefert hatte, steigerte er sich am 11. Februar diesen Jahres als Zweitplatzierter des Barcelona-Halbmarathons auf herausragende 60:09 min, womit er jetzt auch auf der 21,0975km-Distanz den nationalen Rekord hält, den zuvor Tadesse Abraham innehatte.
Rund sechs Wochen später überzeugte er bei der Halbmarathon-Weltmeisterschaft in Valencia mit einem starken 8. Platz, womit er als erster Europäer das Ziel erreichte. Julien, der für den Schweizer Verein Stade Genève startet und dem internationalen NN-Running-Team angehört, lebt mittlerweile die meiste Zeit des Jahres im kenianischen Iten – also dort, wo viele der weltbesten Läufer täglich trainieren. Einen Einblick in das Leben und Training in Kenia gewährt Julien im Interview mit Larasch…
Larasch: Hallo Julien, erstmal herzlichen Glückwunsch zu deinen Erfolgen der letzten Monate! Erzähle uns doch ein bisschen über dich! Wann hast du eigentlich entschieden, nach Kenia zu ziehen? War es schwierig für dich, die Schweiz zu verlassen?
Julien Wanders: Ich war erstmals im Dezember 2014 in Kenia. Es war nur für ein einmonatiges Trainingslager, in meinem Kopf hatte ich jedoch bereits die Idee, mich dort niederzulassen. Bei den folgenden Kenia-Besuchen bin ich dann immer länger dort geblieben. Mittlerweile lebe ich fast das ganze Jahr dort und komme im Sommer für die Bahnsaison in die Schweiz, nach St. Moritz.
Es war nicht schwierig für mich, die Schweiz zu verlassen. Ich fing an, mich in Genf etwas „gesättigt“ zu fühlen. Ich brauchte ein anderes Leben, das mehr meiner Leidenschaft entsprach. In Iten habe ich den idealen Ort gefunden. Ich habe allerdings eine Weile gebraucht, um mich anzupassen, da es anfangs schwierig war, akzeptiert zu werden. Außerdem sprach ich kaum Englisch und noch weniger Swahili. Bei den Dauerläufen wurde ich dauernd auseinandergenommen, da die anderen Läufer mir zeigen wollten, dass sie stärker waren. Letztendlich haben sie gesehen, dass ich nicht nur zum Spaß dort bin und mittlerweile gehöre ich dazu!
Wie läuft das Leben denn so in Kenia ab? Was sind die größten Unterschiede mit dem Leben in der Schweiz? …Und was fehlt dir ein bisschen?
Das Leben in Kenia ist sehr einfach. In der Schweiz, oder anderswo in Europa, ist jeder im Alltag ziemlich gestresst, ganz im Gegensatz zu Iten.
Hier kommt es häufig zu Wasser- oder Stromausfällen, was in Europa nicht mehr vorstellbar ist. Die Menschen sind viel freundlicher und nehmen sich Zeit, mit dir zu reden. Selbst die berühmtesten Athleten verachten dich nicht, sie haben keine großen Allüren, anders als viele europäische Superstars. Ehrlich gesagt fehlt mir nicht viel aus der Schweiz, abgesehen von meiner Familie und meinen Freunden im Verein, die ich immerhin sehe, wenn ich mal wieder in Genf bin.
Wie lange hast du denn gebraucht, um dich an die Höhe zu gewöhnen?
Mein erster Aufenthalt in Iten war sehr schwer, nicht wirklich wegen der Höhe, sondern vor allem durch die sehr profilierten Strecken. Ich habe immer nur kurze Zeit gebraucht, um mich an die Höhe zu gewöhnen, ca. zwei bis drei Tage reichen mir. Aber ich brauchte Jahre, um mich an die vielen Steigungen auf den Trainingsstrecken zu gewöhnen!
Und was ist generell das Spezielle am Training in Kenia? Hast du lange gebraucht, um die richtige Trainingsgruppe zu finden?
Das Spezielle am Training in Iten ist, dass man immer nach Gefühl läuft. Hier sollte man die Zeiten und genau durchgeplanten Trainings etc. vergessen. Man sollte sich an das Terrain und an die Gruppe anpassen und sich keine Grenzen setzen.
Anfangs bin ich mit verschiedenen Gruppen mitgelaufen, ich habe ein bisschen ausprobiert und habe vor allem von den kenianischen Läufern gelernt. Mehrmals bin ich ins Übertraining geraten, da ich zu sehr gepusht habe, doch das hat mich nie aufgehalten. Die Kenianer haben davor keine Angst, sie haben eine ganz andere Mentalität als die Europäer und setzen sich keine Grenzen!
2016 habe ich angefangen, mein Training mit ein paar Läufern, die ich kannte, durchzuführen. Nach und nach sind immer mehr Läufer dazugestoßen und eine zehn- bis fünfzehnköpfige Gruppe hat sich formiert, die meinen Trainingsplan, der wiederum von meinem Coach Marco Jäger stammt, befolgen.
Wie verläuft denn die Kommunikation mit deinem Trainer in Genf und mit den Athleten aus deiner Trainingsgruppe? Sind sie immer bereit, dein Trainingsprogramm mitzumachen?
Jeden Sonntag schickt mein Trainer mir den Plan für die nächste Woche. Ich sage dann jeden Tag in der Gruppe an, was auf dem Plan steht. Ich organisiere den Transport, wähle die Trainingsstrecken aus und versuche, mich um meine Trainingspartner zu kümmern, damit ihnen nichts fehlt. Nach jeder Trainingseinheit rufe ich meinen Trainer an, um ihm ein Feedback zu geben. Dann passt er den Plan gegebenenfalls meiner Befindlichkeit entsprechend an: Wenn ich mich gut fühle, schreibt er härtere Einheiten auf. Ist das Gegenteil der Fall, reduziert er die Belastung ein wenig. Meine Trainingskollegen sind immer bereit, mein Training mitzumachen, so anstrengend es auch sein mag – außer wenn es regnet!!
Kannst du kurz deinen Alltag in Kenia beschreiben und auch auf die Ernährung eingehen. Was sind hierbei die größten Unterschiede zur Schweiz?
Grob gesagt besteht mein Tag aus laufen, essen und schlafen. Ich stehe morgens früh auf, zwischen 5 und 5:30 Uhr, und starte mein erstes Training, entweder ein Dauerlauf oder eine Tempo-Einheit zwischen 6 und 6:30 Uhr. Anschließend gibt es zu Hause Frühstück und dann ein Nickerchen. Nach dem Mittagessen schlafe ich erneut, bevor es um 16 Uhr zum zweiten Training geht. Hier steht ein Dauerlauf oder eine Krafteinheit, gefolgt von einem Dauerlauf, auf dem Plan. Danach kann ich mich häufig massieren lassen und zwischen 19 und 20 Uhr esse ich zu Abend. Gegen 20:30 Uhr gehe ich normalerweise schlafen, um am nächsten Tag gut erholt zu sein.
Bei meiner Ernährung variiere ich zwischen meiner aus Genf gewohnten und der kenianischen Kost. Zum Frühstück esse ich Toast mit dunkler Schokolade und trinke Chai. Zu Mittag gibt es meistens Nudeln, allerdings keine große Menge, zusammen mit Eiern. Zum Abendessen esse ich häufig Ugali mit Gemüse oder Fleisch, normalerweise handelt es sich um Ziegenfleisch. Der Unterschied zur Schweiz ist, dass praktisch alle Lebensmittel, die man in Iten findet, aus der Region stammen und somit sehr gut für die Gesundheit sind. Die kenianische Kost ist sehr einfach, aber wenn man genauer hinschaut, ist es eine perfekte Ernährung für Läufer!
Welchen Einfluss hat deine Freundin Joan Kolly auf dich? Ist sie auch eine Läuferin?
Meine Freundin hat einen sehr positiven Einfluss auf mich. Da sie keine Profi-Läuferin ist und nur zum Spaß läuft, sprechen wir nicht 24 Stunden am Tag über Leichtathletik, was gut für den Kopf ist. Außerdem hat sie die kenianische Mentalität: Jedes Mal, wenn ich zu einem Wettkampf reise, spricht sie mir Mut zu. Sie sagt, dass alles möglich ist und dass ich gewinnen werde – was mich wirklich in meinem Selbstvertrauen bestärkt!
Anderes Thema: Hast du eigentlich viele Doping-Kontrollen und glaubst du, dass das Anti-Doping-System in Kenia effizient ist?
Dieses Jahr wurde ich bereits sieben Mal kontrolliert, dreimal in Kenia und viermal bei Wettkämpfen, sowohl vor als auch nach den Rennen. Letztes Jahr hatte ich mehr als 20 Kontrollen! Soviel ich weiß, werden die besten kenianischen Läufer regelmäßig kontrolliert, auch in Kenia. Das Problem ist, dass es hier eine derartige Dichte an Läufern auf hohem Niveau gibt, dass es schwierig ist, alle zu testen. Andererseits finde ich, dass Kenia zu oft mit Doping in Verbindung gebracht wird. Das Erste, was auffällt, wenn man nach Iten kommt, ist, wie hart die die Athleten trainieren und welchen Erfolgshunger sie haben. Sicherlich gibt es Dopingfälle – was traurig ist – so wie überall. Aber die Leute sollten nicht vergessen, dass die Athleten in Iten sehr sehr hart trainieren.
Danke für diese Einblicke, Julien! Zu guter Letzt: Was sind denn deine Ziele für diese Saison?
Diese Saison sind die Europameisterschaften mein großes Ziel, ich möchte über 10.000 und 5000m starten, da ich zeigen möchte, dass ich ein Bahnläufer und nicht nur ein guter Straßenläufer bin!
Welchen Tipp würdest du abschließend jungen Athleten geben, die große Ziele haben? Ist das Leben für sie in Kenia zu empfehlen?
Habt Spaß, auch wenn dieser Sport hart ist. Vergesst nicht, euch euren kindlichen Geist zu bewahren und den Laufsport als Spiel zu verstehen. Seid geduldig, da es Zeit braucht, um Ausdauer zu entwickeln. Habt keine Angst, Risiken einzugehen und Fehler zu machen solange ihr jung seid. Ihr solltet diszipliniert sein, langfristige und kontinuierliche Arbeit im täglichen Training werden euch weit bringen!
Um in Kenia zu leben, muss man mental stark sein, da es im täglichen Leben sowie im Trainingsalltag mehr Schwierigkeiten zu bewältigen gibt als in Europa. Aber es ist eine tolle Lebensschule und es ist sicherlich meine Entscheidung, nach Kenia zu ziehen, die mir diese mentale Stärke verliehen hat: Es ist alles eine Frage der Anpassung.
Wir danken dir ganz herzlich für dieses Interview, Julien, und wünsche dir viel Erfolg auf deinem weiteren Weg!