In unserer neuen Kategorie »Historisches« wollen wir sowohl Persönlichkeiten des Sports als auch herausragende Sporthighlights thematisch platzieren, um damit die Faszination Sport in all ihren, zum Teil auch zwiespältigen Facetten zu beleuchten, aber auch um unsere Leidenschaft für den Sport darzustellen. Es fällt schwer, ein Äquivalent zu finden, bei dem eine solche enorme Verdichtung aus Mut, Freude, Drama oder Leid zusammenfällt. Bei dem sich Bewegung, Grazie, Anmut, Ästhetik so wunderbar vereinen. Jeder Sportinteressierte hat solche Momente im Kopf. Wir wollen sie gelegentlich aufleben lassen oder einfach nur erzählen.
Letzte Woche fand der 120. Boston-Marathon statt und der Leipzig-Marathon wiederholte sich zum 40. Mal – kleines Marathon-Jeopardy: Lauflegende, die vor 30 Jahren den Leipzig-Marathon und vor 20 Jahren den Boston-Marathon gewann. Richtig: Wer ist Uta Pippig? Von ihrem ersten DDR-Meisterinnentitel 1986 in Leipzig bis zu ihrem dritten Sieg hintereinander 1996 in Boston, der eine unglaubliche Serie von sechs Siegen krönte, stieß die gebürtige Leipzigerin in die Hall of Fame des Laufsports vor und avancierte als »everybody’s darling« und »sunny girl« zur Werbeikone[1] und Großverdienerin. Auch in diesem Jahr zur 120. Auflage lief sie spontan und ohne gezielte Vorbereitung von Hopkinton nach Boston, um das Krebsforschungsinstitut Dana Farber sowie die Hoyt Foundation zu unterstützen.[2]
Jugend in der DDR (1984 – 1989)
Uta Pippig, Jahrgang 1965, begann in Petershagen bei Berlin als Turnerin, Handballspielerin und Keglerin. Mit 13 Jahren kam sie zur Leichtathletik, als eine Schulfreundin sie zum TSG Blau-Weiß Petershagen einlud.[3] Ab 1983 trainiert die von Anfang an das Laufen Liebende beim ASK Vorwärts Potsdam unter Fritz Janke[4]. 1986 wird dort Dieter Hogen[5] ihr Trainer. Unter ihm wird Uta Pippig eine der erfolgreichsten Läuferinnen der DDR, gewinnt 1986[6] (2:37:56) und 1987 (2:30:50) den Leipzig-Marathon und wird damit zwei Mal DDR-Meisterin. Ein Jahr später ist sie Zweite in Tokio und 1989 belegt sie beim Weltcup in Mailand den dritten Platz.
- Seit ihrer ersten Teilnahme an den Weltmeisterschaften 1987 in Rom träumt Uta Pippig davon, an großen renommierten Straßenläufen teilzunehmen, was ihr als Sportlerin eines Armeesportklubs im repressiven DDR-System nicht vergönnt ist. Auch ecken sie und Dieter Hogen zunehmend im DDR-Leistungssportsystem an und können die Trainingsmethoden, die ihnen vorschweben, nicht umsetzen. Der Freiheitsdrang der damals 24-Jährigen und der Traum von einer großen Laufkarriere im Westen, veranlasst sie im Januar 1990 gemeinsam mit Dieter Hogen nach Westberlin zu fliehen – es war schließlich alles andere als absehbar, dass die Grenzen offen bleiben und sogar das gesamte Regime zusammenbrechen würde.
Laufend in die Freiheit (1990 – 1996)
Im Frühjahr 1990 wechselt Uta Pippig zur LG VfB/Kickers Stuttgart und gibt ihr Debüt in Boston (2:28:03). Sie wird Zweite hinter der portugiesischen Weltmeisterin und Olympiasiegerin Rosa Mota. Beim 17. Berlin-Marathon Ende September – der drei Tage vor der deutschen Wiedervereinigung erstmals durch das Brandenburger Tor führt – kann sie ihre Leistung vom April des Jahres in Boston erneut abrufen (2:28:37) und gewinnt diesen historischen Lauf.[7] »It’s a moment that I will cherish for as long as I live, and I feel fortunate to have shared that special occasion with so many«, wird sie später resümieren.
Von 1991 bis 1996 tritt sie für den SCC Berlin an. 1991 stellt Uta Pippig ihre persönlichen Bestzeiten über 5000 Meter auf: Im Februar läuft sie in Stuttgart Hallenweltrekord (15:13.72) und im September beim ISTAF Grand-Prix-Meeting in Berlin wird sie in 15 Minuten und 4.87 Sekunden Vierte. Im Juni belegt sie beim Europacup in Frankfurt über 3000 Meter den zweiten Platz, ihre persönliche Bestzeit auf dieser Distanz (8:40.99) stellt sie zwei Jahre später beim Grand-Prix-Meeting in Zürich auf, wo sie als Dritte finisht. Im Oktober holt sie im niederländischen Nieuwegein WM-Bronze über 15 Kilometer in 48 Minuten und 44 Sekunden.
Seit 1992 lebt Uta Pippig in Boulder, Colorado. Dort findet sie ideale Trainingsbedingungen vor und trainiert so hart wie nie zuvor. Sie wird im Frühling in Boston Dritte (2:27:12) wie im Vorjahr (2:26:52), stellt beim Grand-Prix-Meeting in Jena ihre persönliche Bestzeit über 10.000 Meter (31:21.36) auf und belegt bei den Olympischen Spielen in Barcelona Platz Sieben über selbige Distanz. Im Herbst gewinnt sie zum zweiten Mal den Berlin-Marathon (2:30:22) – der Auftakt einer historischen Siegesserie.
Am 15. November 1993 ist es ungewöhnlich warm für die Jahreszeit in New York, so warm, dass unter den 26.000 Teilnehmenden des 24. New-York-City-Marathon mehr als 50 ins Krankenhaus gebracht werden müssen. 22 Grad Celsius können Uta Pippig auf der anspruchsvollen 26 Meilen und 385 Yard langen Strecke nichts anhaben. Sie zählt nicht zu den Favoritinnen, kontrolliert das Rennen aber früh und gewinnt überraschend bei ihrer ersten Teilnahme in neuer Bestzeit von 2 Stunden, 26 Minuten und 24 Sekunden.[8] Uta Pippig ist bis heute die einzigste Deutsche, die das berühmte Rennen durch alle fünf Boroughs von New York für sich entscheiden konnte.
Die Siegesserie hält an, als sie im Frühjahr 1994 bei ihrer vierten Teilnahme in Boston mit neuem Streckenrekord (2:21:45) über die Russin Valentina Yegorova triumphiert[9]. Das war damals die drittbeste je über die Marathondistanz gelaufene Zeit einer Frau und lag nur 39 Sekunden über dem Weltrekord von Ingrid Kristiansen[10] aus dem Jahre 1985.
Wie ein Jahr zuvor gewinnt Uta Pippig auch 1995, vier Wochen vor Boston, den Halbmarathon auf dem schnellen Kurs in Kyōto. Diesmal ist sie eine Sekunde schneller als der von Elana Meyer aufgestellte Weltrekord von 1991 (1:07:58). Diese Fabelzeit, die bis heute deutscher Halbmarathonrekord der Frauen ist, steht zwei Jahre als Weltrekord über die 21,0975 Kilometer, bis sich die Südafrikanerin den Weltrekord ebenfalls in Kyōto wieder zurückholt.
In Boston rennt Uta Pippig dann Seite an Seite mit der Olympia-Zweiten über die 10.000 Meter, Elana Meyer, durch die Newton-Hills, bevor sie ihrer Rivalin entkommt und trotz blutiger Blasen an beiden Füßen mit einem Vorsprung von 1 Minute und 40 Sekunden gewinnt (2:25:11). Das macht sie endgültig zum Star in den USA, inklusive hochdotiertem Werbevertrag.[11] Im September 1995 gelingt der »Queen of Boston« der Hattrick beim Berlin-Marathon (2:25:36). Die Jahre 1994 und 1995 stellen den sportlichen Höhepunkt der Karriere von Uta Pippig dar. Sie ist die Nummer Eins in der Marathon- und Halbmarathon-Weltrangliste.
1996 bei der 100. Auflage des ältesten Marathons der Moderne läuft Uta Pippig den Lauf ihres Lebens.[12] Trotz heftiger Magenschmerzen und Durchfall holt sie in einem dramatischen Rennen 30 Sekunden Rückstand auf die Kenianerin Tegla Loroupe auf und erkämpft einen ehrwürdigen Sieg (2:27:12)[13] – den dritten hintereinander in Boston! Völlig dehydriert wird Uta Pippig nach dem Rennen ins Boston University Medical Center eingeliefert. Dort wird eine ischämische Kolitis mit gastrointestinalen Blutungen diagnostiziert. Dan Shaughnessy schwärmt im Boston Globe voller Bewunderung: »She was Carlton Fisk after clanging a homer off the left-field foul pole. She was Larry Bird after stealing Isiah Thomas’ pass to beat the Pistons. She was Bobby Orr flying through the air after beating the St. Louis Blues to win the Stanley Cup.«
Nur 15 Wochen später gilt Uta Pippig als Favoritin für Olympisches Gold in Atlanta im Marathonwettbewerb, muss aber bei ihrem 20. Marathon das erste Mal aufgeben. Wie sich später herausstellt erlitt sie eine Stressfraktur in der Hüfte und im rechten Schienbein.
Risse im Hochglanzbild (1998 – 2002)
Nach einem positiven Dopingbefund im April 1998 droht Uta Pippig eine Sperre für zwei Jahre. Die im Training in Boulder, Colorado abgenommenen A und B Proben wiesen einen erhöhten Testosteron/Epitestosteron-Quotienten auf, was Rückschlüsse über den Anteil männlicher Wachstumshormone erlaubt.[14] Es kommt aber nie zu einem rechtskräftigem Urteil. Im September 1998 wird Uta Pippig beim ISTAF GrandPrixMeeting in Berlin Siebente über 5000 Meter mit einer Zeit von 15 Minuten und 3,72 Sekunden. Das ist etwas schneller als ihre Bestzeit von 1991, wegen des laufenden Dopingverfahrens wird diese Zeit aber nicht anerkannt. Erst im August 2000 einigen sich der DLV und Uta Pippig vor dem Schiedsgericht des DSB mit einem Vergleich.[15] Uta Pippig verzichtet auf Schadensersatzforderungen gegenüber dem DLV, die verhängte und abgelaufene Dopingsperre ist nicht annulliert, aber auch nicht rechtlich geprüft. Jede Partei darf ihre Meinung äußern.[16] Es handelt sich weder um einen Freispruch noch um eine Verurteilung.[17]
Die nicht mehr für den DLV Startende feiert 2000 bis 2002 Siege bei kleineren Rennen über die Unterdistanzen in den USA, schafft es aber nicht noch einmal in die Marathonweltspitze vorzustoßen, wo mittlerweile Zeiten unter 2 Stunden 20 Minuten gelaufen werden. 2002 zieht sich Uta Pippig aus dem Leistungssport zurück.
Uta Pippig bleibt bis heute der Leidenschaft zum Laufen treu. Als Gründerin und Präsidentin von Take The Magic Step[18] sowie Mitbegründerin der gleichnamigen Stiftung, führt sie Menschen mit Hilfe des Laufsports zu einem gesünderen Lebensstil und engagiert sich stark im karitativen Bereich, vor allem bei der Unterstützung von unterprivilegierten Kindern. Sie ist zudem als Autorin, Co-Kommentatorin und Trainerin der Laufteams der Hoyt Foundation[19] in Vorbereitung auf den Boston Marathon tätig.