Auf einer gelben Klappliege hat sie es sich kurz bequem gemacht. Sie trägt Leggins und ein ausgewaschenes Shirt. Die braunen sommersprossenumrandeten Augen hinter der runden Brille sind geschlossen. Marie schläft, ruht sich aus, bevor der anstrengende Wettkampftag für sie weitergeht. Es ist der letzte vor den Jugend-Europameisterschaften, die am 4. bis 6. August in Marseille stattfinden. Aber in welcher Sportart überhaupt?
Die Achtzehnjährige erwacht, isst noch ein Stück Banane und steht auf, um ein bisschen Arme und Beine für den nächsten Start zu lockern. Marie ist mit 1,67m nicht sonderlich groß, wirkt trainiert, aber nicht übertrieben muskulös. Eigentlich ist ihre Statur eher zierlich. Vielleicht die einer Turnerin? Es fällt enorm schwer, sie rein optisch in eine sportliche „Schublade“ zu stecken. Was ist sie für ein Typ? Was zeichnet sie aus?
„Ich bin auf jeden Fall jemand, der bis zur letzten Reserve gehen kann. Wenn’s drauf ankommt, bin ich diejenige, die durchzieht und nicht lang rumjammert“, meint Marie über sich selbst. Auf ihrem Rucksack prangt der Schriftzug: „Team Deutschland – Marie Graf“. Die ersten Nationalmannschaftseinsätze hat sie also schon hinter sich.
Auch bei ihrem nächsten Rennen am heutigen Wettkampftag, den 200m Brust gewinnt sie mit großem Abstand. Und das, obwohl sie beim Start im Vergleich zu ihren Gegnerinnen auf Nebenbahnen nicht so wirkt, als hätte sie auch nur den Hauch einer Chance: Wie eine „typische“ Schwimmerin sieht sie einfach nicht aus. Die meisten Konkurrentinnen überragen sie sowohl in der Breite als auch in der Höhe.
Im Schwimmen ist allerdings gerade die Körpergröße häufig der entscheidende Vorteil, wenn es darum geht, wie viele Armzüge man machen muss, um eine Bahn zurückzulegen. Wenn es darum geht, wie weit man sich bei der Wende abstoßen kann. Wenn es darum geht, wer beim entscheidenden Anschlag die Nase vorne hat. „Klar denkt man darüber nach. Ich habe auch viel weniger Armmuskeln als die meisten“, gesteht Marie, „aber was kann ich denn daran ändern?“
Vielleicht einfach ein bisschen mehr Krafttraining? „Das lasse ich nach einer Ellenbogenverletzung fast komplett weg“, winkt Marie ab, „ich konnte ewig lang nicht schwimmen, hatte Schmerzen und zig Diagnosen von unterschiedlichen Ärzten. Vermutlich ist es eine chronische Reizung, die ich wohl nie so richtig loswerde.“
Marie hat sich damit abgefunden, dass sie diese körperlichen Nachteile mit ihrem Talent sowie einer Menge Fleiß und Disziplin ausgleichen muss. Neben den zwei Wassereinheiten pro Tag konzentriert sie sich im Krafttraining deshalb verstärkt auf die Beine, geht außerdem laufen und „manchmal spielen wir dann in der Trainingsgruppe noch ein bisschen Fußball.“
Harte, zehrende Einheiten im Becken, kombiniert mit lockerem Kicken auf der Wiese, damit auch der Spaß nicht verloren geht, ist möglicherweise das Erfolgsrezept von Maries Trainer, Roland Böller, der von seinen Schwimmern liebevoll „Rolli“ genannt wird. In diesem Sommer schickt er gleich drei seiner jungen Athleten zu internationalen Meisterschaften: Annalena Wagner fährt zu den EYOF in Ungarn, Peter Verijasi startet bei Jugend-Weltmeisterschaften in Indianapolis (USA) und die Dritte im Bunde ist Marie. Sie hat bei den Deutschen Meisterschaften die Qualifikation zu den europäischen Jugendmeisterschaften im Freiwasser geschafft – also über die ganz langen Distanzen.
„Das kam schon sehr überraschend“, gesteht Marie, „die langen Strecken liegen mir eigentlich schon. Die EM-Quali über die 1500m im Becken habe ich aber leider nicht geschafft.“ Ohne große Erwartungen ging es daher zu den deutschen Freiwasser-Titelkämpfen in Magdeburg.
„Ich habe da nicht speziell drauf hintrainiert. Ich bin zum allerersten Mal überhaupt 10 Kilometer geschwommen und wusste gar nicht, was mich erwartet.“ Also ein Sprung ins kalte Wasser?
„Ja, irgendwie schon. Sogar im wahrsten Sinne des Wortes“, grinst Marie und erklärt: „Besonders warm ist das Wasser im See ja nicht. Deshalb darf man bei Freiwasser-Wettkämpfen, anders als im Becken, Rennanzüge tragen, die bis zu den Fußknöcheln reichen. Sowas habe ich aber gar nicht.“
Nichtsdestotrotz hat ihr der Ausflug auf die ganz lange Strecke viel Spaß gemacht. Genau 2:09:35,22h lang hat er gedauert und das Kämpfen im frischen Gewässer hat sich gelohnt: Neben einem Sieg in der Jahrgangswertung und einem vierten Platz in der Gesamtwertung durfte sie sich über die Nominierung zur Jugend-EM freuen.
Also in Zukunft nur noch Freiwasser-Wettkämpfe? „Nein, das nicht. Ich möchte dem Becken schon noch einige Zeit treu bleiben“, ist sich Marie sicher, „aber ich glaube, die Strecken wie 5 Kilometer, 10 oder vielleicht sogar mal 25 liegen mir sehr. Da kann ich mich bestimmt noch weiter nach vorne arbeiten.“
Mit dieser Motivation nimmt sie die Vorbereitung auf Marseille umso zielstrebiger in Angriff. Dafür stehen kräftezehrende Einheiten auf dem Plan, bei denen sie nun auch oft alleine trainieren muss. Während ihre Vereinskameraden nach der Abend-Einheit das Bad verlassen, absolviert sie noch einige Zusatz-Kilometer. „Ich bin mir nicht sicher, ob das jeder so ohne Weiteres mitgemacht hätte“, meint Marie nachdenklich.
„Aber das ist es mir wert. Ich will das Beste aus mir herausholen“, stellt Marie klar. Entsprechend hoch sind schließlich auch ihre Erwartungen an sich selbst: „Ich glaube, wenn in Marseille nichts Gutes rauskommt, wäre ich schon enttäuscht.“
Marie will noch einmal in dieser Saison alles geben. Sie will die Chance nutzen, die sie durch den mutigen Sprung ins kalte Wasser bekommen hat. Wie sie selbst sagt, ist sie eine, die bis zur letzten Reserve gehen kann. Eine, die durchzieht und nicht lange rumjammert. Und das kommt ihr auf langen Distanzen, die maximale Ausdauer und Durchhaltevermögen verlangen, sicherlich zugute. Selbst wenn die Arme ein bisschen kürzer sind als die der anderen…