Klar, dass ich dieses Buch nicht nur in unsere umfangreiche Lauf- und Trainingsbibliothek stellen musste sondern es auch lese. Mit Werner Sonntags „Einmal musst Du nach Biel“ fing für mich das 100 km-Laufen an. Ich sog das Buch damals in mich auf.
Bei der Wiederauflage von „Mehr als Marathon“ hat der Journalist und Läufer Werner Sonntag zwar den identischen Titel gewählt, das Buch sonst aber fast komplett verändert. Klar, seit 1986 ist eine Menge Zeit vergangen, auch die Ultralauferei und der Autor haben sich weiterentwickelt.
Werner Sonntag, der seit 1966 über 300 Marathons und Ultras gelaufen ist, hat im Laufe seines Läuferlebens sehr viel Erfahrung gewonnen, die aus jeder Zeile seines Buches spricht. Er stellt allerdings gleich zu Beginn klar, dass „Mehr als Marathon“ kein Trainingsleitfaden ist und daher auch keine Trainingspläne enthält. Aber das muss es ja auch nicht. Stattdessen bietet Sonntag viel mehr. Und zwar für Ersttäter, Anfänger und Erfahrene gleichermaßen.
Ersttätern macht er Mut, sich an das Abenteuer Ultra zu wagen, er beschreibt ausführlich, wie man sich auf die Strecken jenseits von Marathon einstellen kann. Warum es sinnvoll sein kann, vorher schon einmal einen Marathon gelaufen zu sein oder warum genau das Gegenteil durchaus auch funktioniert. Das kann ich aus eigener Erfahrung nur bestätigen. Es führen immer viele Wege zum gleichen Ziel: eine frühere sehr gute Freundin und Trainingspartnerin von mir bestritt ihr erstes Rennen überhaupt bei einem (auch noch anspruchsvollen) 100 km-Lauf, schnelle Marathons etc. kamen erst viel später. Wir wollten immer gemeinsam nach Biel – ich war dann irgendwann dort und begann mit der 100 km-Lauferei. Leider alleine. Aber mit Werner Sonntag im Gepäck.
„Ultralaufen ist ein stark emotionaler Sport“, so Sonntag. Wie wahr (und zwar in jeder Hinsicht). Genau das ist es auch, was viele daran so sehr reizt. Die allerwenigsten sind reine Leistungsläufer, sondern es geht ihnen viel mehr um das Erlebnis, um das Bewältigen einer bestimmten Strecke, um das Erreichen eines Zieles. Die erzielte Zeit steht für die meisten Ultraläufer gar nicht so sehr im Mittelpunkt ihres Tuns. Die Gründe hierfür sind vielfältig, Sonntag nennt etwa das Älterwerden oder den Verlust an Schnelligkeit. Da ist man bei den Ultras gut aufgehoben. Die Teilnehmerfelder sind kleiner, familiärer, das Konkurrenzdenken ist (mal abgesehen von den ganz Schnellen) nicht so stark ausgeprägt. Dies spricht viele an. Allerdings muss man die „Emotionalität“ auch aushalten können. Nicht jeder ist dafür geschaffen. Auch das macht Sonntag eindrücklich klar.
Ohne detailliert auf Trainingsformen einzugehen, bringt Sonntag einige interessante Beispiele von sehr guten Ultraläufern und beschreibt ihr Herangehen an die zu bewältigenden Strecken. Klar, daraus kann man für sich keine Trainingstipps ableiten, aber der Ultraläufer bekommt den einen oder anderen Hinweis. Und Sonntag empfiehlt – das lese ich natürlich besonders gerne – Abwechslung im Trainingsalltag. Gerade bei weniger leistungsorientierten Läufern habe ich manchmal den, zugegeben sehr subjektiven, Eindruck, dass es daran oft fehlt.
Ausführlich beschäftigt sich Sonntag mit den psychologischen Aspekten des Ultralaufens. Mediale Aufmerksamkeit oder Bewunderung durch Kollegen, Freunde, Nachbarn kann man mit dieser Sportart meist keine erreichen. Eher das Gegenteil: Rechtfertigung für das, was man tut. Ultralaufen geht daher einher mit einer hohen Eigenmotivation. „Die Einsamkeit des Langstreckenläufers“ wird hier sehr schnell begreifbar. Und selbstverständlich spielt der Kopf eine große Rolle. Natürlich läuft man auch Ultras vor allem mit den Beinen, aber man darf das Mentale nicht unterschätzen. Ein Patentrezept kann auch Werner Sonntag nicht liefern, aber wieder anschauliche Beispiele und Hinweise, wie man sich mental auf die langen Strecken einstellen und Krisen auf der Strecke bewältigen kann. Sei es die Vermeidung der Negation, Yoga, Mantras oder was auch immer, Möglichkeiten gibt es etliche. Und ich fühlte mich bei vielem, was ich im Buch gelesen habe, durch meine eigenen Erfahrungen bestätigt. „Keine negativen Gedanken“ hat mir ein guter Freund bei meinem ersten 100er mit auf den Weg gegeben. Genau das ist es!
Dass bei Sonntag ein ausführlicher Teil über Ernährung und Sporternährung nicht fehlt, ist klar. Wunderbar einfach und sehr verständlich schildert er seine Sicht auf eine gesunde Ernährung. Sie spricht mir an vielen Stellen aus der Seele, kein Wunder, dass ich diese Kapitel mit besonderer Freude gelesen habe. (Frischkorn)-Brei ist seit Jahren mein Frühstück. Synthetische Isogetränke vermeide ich unter Vollbelastung weitgehend. Pastapartys ebenfalls. Natürlich gilt auch hier, dass jeder für sich herausfinden muss, was ihm gut tut und was er unter Belastung zu sich nehmen kann.
Gerade auch für erfahrene Ultras ist sicher die Geschichte des Ultralaufens interessant. Sonntag widmet ihr viele Seiten und dokumentiert ausführlich, dass die Bewältigung von langen, richtig langen, Strecken, keine Erfindung der Neuzeit ist. Seit Jahrhunderten (und noch länger) ist dies ein Teil der Laufgeschichte. Komische Blicke von verständnislosen ballspielenden Nachbarn oder Kollegen müssen einen also nicht in Verlegenheit bringen. „Wir alle sind zum Laufen geboren.
Daher: eine empfehlenswerte Neuauflage, die in keinem Laufbücherschrank fehlen sollte.
Sportwelt-Verlag
17,95 €
ISBN 978-3-941297-28-9