Sicherlich viele Sportler haben schon einmal den Orthopäden besucht und die Diagnose „muskuläre Dysbalance“ bekommen. Eine theoretisch harmlose Ursache für Störungen des Bewegungsapparates, die dennoch weit verbreitet ist. Ein muskuläres Ungleichgewicht an sich ist nicht immer problematisch und lässt sich in manchen Leistungssportarten auch nicht umgehen. Jedoch führt die in der Folge unharmonische Belastung von Gelenken, Sehnen, Muskeln usw. zu vermehrten Verletzungen. Ein Verständnis über die Entstehung ist daher wichtig für eine gezielte Prävention.
Vereinfacht dargestellt sind die meisten unserer Muskeln für die Bewegung von Gelenken zuständig. Dafür gibt es zu jedem Muskel einen passenden Gegenspieler. Die sogenannte Agonist-Antagonist-Beziehung ist für eine harmonische Funktion des Bewegungsablaufes verantwortlich [1]. Wenn einer der beiden Akteure jedoch stärker als der andere ist, kommt es zu einem Ungleichgewicht und einer Dysbalance. Grundlage für solche Störungen sind: verstärkte Muskelverkürzung, verminderte Dehnfähigkeit, Muskelabschwächung oder Muskelzuwachs von einem der Partner [2]. Besonders einseitige Belastungen und Fehlbelastungen sowie Belastungen nach ungenügender Regeneration stellen im sportlichen Alltag die Hauptgründe dar. Ebenfalls resultieren auch mangelnde oder fehlende Belastungen zu einem muskulären Ungleichgewicht. Insbesondere der Laufsport neigt zu einer einseitigen Belastung bestimmter Muskelgruppen. Sportwissenschaftlich formuliert handelt es sich um eine eindimensionale und zyklische Sportart. Bei so einer monotonen Dauerbelastung lässt es sich einfach vorstellen, dass manche Muskelgruppen ständig benötigt werden, während andere kaum aktiv sind.
Wichtig für das weitere Verständnis der Entstehung von Dysbalancen sind unterschiedliche Funktionen der Muskulatur. Funktionell-anatomisch kann man eine Unterscheidung von tonischen und phasischen Muskeln vornehmen (gemischte Muskulatur erfüllt demzufolge beide Kriterien). Grundlegende Unterscheidungsmerkmale sind [1, 3]:
- Tonische Muskeln: Haltefunktion, für Ausdauerleistungen, langsame Ermüdung, neigt zur Verkürzung. Beispiele: Quadriceps (Kniestrecker), M. Iliopsoas (Hüftbeuger), M. pectoralis major (großer Brustmuskel)
- Phasische Muskeln: Bewegungsfunktion, für eine kurze Kraftausübung, schnelle Ermüdbarkeit, neigen zur Abschwächung. Beispiele: M. rectus abdominis (einer der Bauchmuskeln), M. gluteus maximus (großer Gesäßmuskel)
Beispielhaft möchte ich diese Zusammenhänge anhand der Lendenwirbelsäulen-Becken-Region erklären. Viele Läufer haben oder hatten sicherlich schon einmal Beschwerden im Rücken (besonders in der Lendenwirbelsäule). Auf den ersten Blick ist das sicherlich merkwürdig, da man beim Laufen doch eher die Füße und Beine belastet. Oft gehen diese Beschwerden auf ein „Hohlkreuz“ zurück und lassen sich zum Teil durch muskuläre Dysbalancen erklären. Durch die montone Belastung beim Laufen entwickelt sich eine Verkürzung der tonischen (z.B. Quadriceps, M. Iliopsoas) und eine Kraftminderung der phasischen Muskeln (z.B. Bauchmuskulatur oder Gesäßmuskulatur) im Bereich des Beckens. Das so entstehende Ungleichgewicht dreht das Becken nach vor und führt in der Folge zu einer verstärkten Krümmung der Lendenwirbelsäule [1]. Weiterhin kann eine daraus resultierende Fehlbelastung der Bandscheiben und einzelner Wirbelkörpergelenke zu Verschleißerscheinungen und Schmerzen der Wirbelsäule führen. Die Therapie leitet sich aus den Muskelfunktionen ab. Die tonische Muskulatur gilt es zu dehnen und die phasische Muskulatur zu kräftigen.
Leider stellt sich die Therapie im Alltag nicht immer ganz so trivial heraus. Nicht umsonst gibt es Sporttherapeuten, die sich in diesem Bereich besonders auskennen. So sind beispielsweise Übungen für die Bauchmuskulatur nicht gleich mit einer gewollten Kräftigung dieser verbunden. Verkürzte tonische Muskeln hemmen nämlich reflektorisch ihre phasischen Antagonisten [1, 4]. Klingt zunächst kompliziert, heißt aber letztlich nur, dass ich bei Kräftigungsübungen gezielt den Gegenspieler „inaktivieren“ muss. Um meine schlaffe Bauchmuskulatur zu kräftigen, muss ich also die Ausführung der Übungen so wählen, dass ich deren Gegenspieler (Hüftbeuger) ausschalte. In diesem Fall empfiehlt es sich die Rumpfhebung ohne fixierte Füße zu absolvieren um so den Hüftbeuger nicht gleichzeitig mit zu trainieren. Anderenfalls trainiere ich eine zunehmende Verkürzung des tonischen Hüftbeugers und die Kräftigung der Bauchmuskulatur bleibt aus.
Daher ist es verständlich, dass sich sportartspezifische muskuläre und arthromuskuläre (veränderte Muskel-Gelenk-Beziehungen) Dysbalancen und Fehlbelastungen entwickeln können und zu Beschwerden führen können [1]. Besonders hoch ist das Risiko sicherlich in besonders monotonen und eindimensionalen Sportarten. Verletzungen im Laufsport resultieren nicht selten aus solchen Dysbalancen. Beispiele für den Zusammenhang zwischen Dysbalance und dem Auftreten von Verletzungen oder Fehlbelastungen finden sich daher auch bei folgenden Schmerzbildern [1]: Tibialis-anterior-Syndrom, Patellaspitzensyndrom, Femoropatellares Schmerzsyndrom, Tractus-iliotibiales Syndrom (Runner’s Knee), Achillodynie (Schmerzen der Achillessehne), Ermüdungsbrüche.
Fazit
- Muskuläre Dysbalancen entstehen durch einseitige Belastungen, Fehlbelastungen, mangelnde oder fehlende Aktivität
- Tonische Muskeln neigen zur Verkürzung
- Phasische Muskeln neigen zur Kraftminderung
- Gezielte Kräftigungs- und Dehnübungen verhindern ein muskuläres Ungleichgewicht und können somit laufspezifischen Verletzungen vorbeugen
Quellen:
1. Tittel, K., Muskuläre und arthromuskuläre Dysbalancen – Pro und Kontra. Vol. 52. 2014. 101-106.
2. Wegenstein, S. and S. Schmid, Muskuläre Dysbalancen beim Patellofemoralen Schmerzsyndrom : welche muskulären Dysbalancen der unteren Extremität können das Patellofemorale Schmerzsyndrom auslösen? 2010.
3. Hülse, M.T.-N., Dagmar, Leitlinien der Stimmtherapie. 2014: Spiecker-Henke, Marianne.
4. Gisler, T., Selektive Klassizierung von Veränderungen im Muskelsystem – Teil II: Die muskuläre Dysbalance und die muskuläre Dysharmonie. Schweizerische Zeitschrift für «Sportmedizin und Sporttraumatologie», 2011. 59: p. 45-58.