Ich erinnere mich an ein Erlebnis ganz zu Beginn meiner Läuferzeit…
…Ich war damals ganz neu im Landeskader des Bayerischen Leichtathletik Verbandes und somit regelmäßig zu Lehrgängen in der Sportschule Oberhaching nahe von München.
Von der Atmosphäre hatte es immer viel von Schullandheim oder einer Klassenfahrt: Wir blieben heimlich bis in die späte Nacht lang wach, in der trainingsfreien Zeit spielten wir Flaschendrehen und zu den Essenszeiten ging es in die große Mensa – jeweils mit separaten Buffets für einzelne Sportlergruppen.
Meine Freundin Julia und ich sind mal versehentlich zur Ausgabetheke für die der Spieler von Hansa Rostock gegangen (die übernachteten dort für ein Bundesliga-Spiel oder so). Da wurde uns aber sofort sehr deutlich klargemacht, dass wir uns hier wohl verirrt hätten. Die verlockende, fast schon luxuriöse Auswahl war eben nur für die Fußballprofis gedacht. Für kleine Nachwuchs-Läuferinnen sah man Standard-Kantinen-Essen vor. Über meine Ernährung habe ich mir damals allerdings noch sowas von überhaupt keine Gedanken gemacht – somit war mir dieser Irrgang zum falschen Buffet höchstens ein kleines bisschen peinlich.
Ganz sicher aber nicht so peinlich, wie der – selbstverständlich ebenfalls unabsichtliche – Fauxpas für einen unserer Betreuer.
Wir saßen mittlerweile alle längst versammelt am Tisch, die meisten hatten auch schon mit dem Essen begonnen. Wir plauderten durcheinander, es war sehr laut im Raum und vielleicht wäre es deshalb gar nicht so aufgefallen, dass eine von uns Mädchen, Maria, unter dem Tisch noch an irgendetwas herumwerkelte. Ihrem Teller schenkte sie überhaupt keine Beachtung.
Doch der Betreuer – ich weiß selbst nicht mehr genau, wie er hieß – war aufmerksam und wurde neugierig. Er beugte sich zu ihr hinüber und fragte recht verwundert, als er sah, womit sie da beschäftigt war: „Nanu, hast du deinen Kugelschreiber mitgebracht?“
In diesem Moment wurde es abrupt still. Alle Augen waren auf das zierliche Mädchen gerichtet. Ich wäre mindestens rot angelaufen. Sie dagegen konterte mehr als routiniert, fast schon patzig: „Das ist mein Insulin-Pen.“
Die peinliche Betroffenheit unter allen Anwesenden löste sich nur zögerlich. Jeder war irgendwie betroffen, aber irgendwie auch unsicher, wie er reagieren sollte. Der Betreuer nickte nur verständnisvoll, ich bezweifle allerdings, dass jeder am Tisch so wirklich kapiert hatte, was er mit der Information „Insulin-Pen“ anfangen sollte. Für die meisten war das, was für Maria längst Alltag war, noch überhaupt keinen kurzen Gedanken wert: Was esse ich? Wie viel davon? Was esse ich nicht? Wann muss ich noch mehr Zucker essen? Wie viel habe ich trainiert und muss ich deshalb weniger Insulin spritzen?
Als Ärztekind hatte ich zumindest eine vage Vorstellung: Maria musste Diabetes haben, wenn sie einen Insulin-Pen verwendete. Auch dass es zwei verschiedenen Arten von Diabetes gab, war mir damals bewusst.
Maria hatte tatsächlich Diabetes Typ1 – eine angeborene Krankheit, die sie quasi schon seit ihrer Geburt begleitete. Und damit auch in ihrem Alltag mit Schule und Sport.
Ich muss gestehen: habe sie nie gefragt, ob es ihr schwer gefallen ist. Ich habe mich nie mit ihr darüber unterhalten, ob es sie genervt hat. Ich habe mich nicht getraut und sie stattdessen nur immer still dafür bewundert, wie sie trotzdem jahrelang überragende Leistungen gezeigt hat: Sie startete bei U18-Weltmeisterschaften, wurde mehrfach deutsche Jugendmeisterin. Seit 2014 ist sie jedoch nicht mehr aktiv.
Wie gesagt: Ich habe mich zu dieser Zeit 0,0% darum geschert, wie ich mich ernähren sollte. Ob ich viele oder wenige Kohlehydrate zu mir nehmen sollte, ob mein Blutzuckerspiegel hoch oder niedrig war. Maria war damit von Anfang an vertraut – und damit bei weitem nicht die einzige im Sport.
Es gibt tatsächlich viele Top-Athleten, die mit Typ1-Diabetes leben. Auch Betroffene vom Typ2 treiben nicht selten Sport auf einem beachtlichen Niveau. Sie leben mit der Krankheit, aber diese beherrscht nicht ihr Leben. Sie sind es gewohnt, auszurechnen, wie viel Zucker sie zu sich nehmen müssen, wie viel Insulin sie spritzen müssen und ob sie bei starker Belastung vielleicht gar nicht spritzen. Sie müssen entscheiden, ob sie einen Insulin-Pen benutzen, eine Insulin-Pumpe…
Am heutigen Diabetes-Tag möchte ich all denjenigen Sportler meinen Respekt zollen, die es trotz – oder gerade wegen – ihrer Erkrankung schaffen, Leistung zu zeigen. Die sich davon nicht einschüchtern oder abhalten lassen. Und die sich sogar teilweise zusammenschließen, um andere Sportler zu beraten und ihnen bei Problemen weiterzuhelfen:
Hier für existiert zum Einen die Vereinigung diabetischer Sportler, www.idaa.de, und auch die Website www.special-ones.de , an die sich Betroffene mit Fragen wenden können.
Für mich war Diabetes immer eine Krankheit, die so weit weg war – die vielleicht meine Oma bekommen könnte. Und vor der sie natürlich ganz fürchterlich große Angst hatte.
Seit ich Maria kennengelernt habe, hat sich das Bild ein bisschen revidiert. Aber ganz sicher nicht zum Negativen: Die Krankheit muss keine Einschränkung für den Sport sein. Betroffene werden vielleicht durch ihr Organisationstalent sogar zu den besseren Athleten…