Eigentlich sollte an dieser Stelle ein Bericht über meinen Halbmarathon bei den Europameisterschaften in Amsterdam stehen. Zumindest hatte ich das so geplant.
Doch leider wird daraus nichts, denn die Dinge sind alles andere als so gelaufen, wie ich sie geplant hatte…
Mein Rennen endete nicht im Ziel, sondern schon kurz nach Kilometer zehn am Ufer der Waterkant und nicht mit einem strahlend-erschöpften Lächeln, sondern einem höllisch-schmerzenden Fuß. Das kann ich wohl getrost als den Super-GAU meiner bisherigen sportlichen Karriere bezeichnen und es wird wohl noch ein bisschen dauern, bis ich die Enttäuschung darüber wirklich verdaut habe.
Aber ich habe innerhalb der letzten Woche auch so viel Zuspruch, Trost und ermunternde Worte zu hören bekommen, dass ich jetzt eigentlich niemandem mehr mit meiner Leidensgeschichte auf die Nerven gehen will. Irgendwie versucht man ja, sich aus diesem ekeligen Sumpf aus Unzufriedenheit, Traurigkeit und Selbstmitleid herauszuziehen. Und ich befürchte, da hilft nichts anderes, als mit der Sache abzuschließen und möglichst positiv zu denken.
Ich würde deshalb nie behaupten, dass es ein Fehler war, nach Amsterdam zu fahren. Trotz Verletzung. Ich bin dort nämlich gar nicht auf ganzer Linie gescheitert. Ich habe (mal abgesehen von der Laufstrecke) zumindest ein paar, wenn auch sehr kleine, Erfolgserlebnisse zu verbuchen – an denen versuche ich mich jetzt zu erfreuen. Und möchte diese Freude natürlich umso lieber mit euch teilen…
Erfolgserlebnis #1
Eigentlich bin ich nicht nach Amsterdam gefahren, sondern geflogen. Und da ich nun ja auch nicht zum ersten Mal in meinem Leben an Bord eines Flugzeugs gehe, sollte ich dementsprechend routiniert sein.
Ich hieve mein Handgepäck auf das Fließband beim Security-Check. Laptop in ein eigenes Plastikfach, Smartphone aus der Tasche, Jacke aus, Bordkarte vorzeigen. Kennt man ja.
Der Herr vor dem Überwachungsbildschirm sieht meine Einkleidung mit Germany-Aufschrift und mutmaßt: „Die Bundespolizei?“ „Nee, deutsche Nationalmannschaft“, antworte ich – das kleine bisschen Stolz in der Stimme ist sicher nicht zu überhören. „Alles klar! Und wo geht’s hin?“ „Zur Leichtathletik-EM nach Amsterdam“, verkünde ich feierlich.
Von wegen: Es geht für mich erst einmal wieder zurück in die Eingangshalle. Ich habe es nämlich tatsächlich geschafft, eine 1-Liter-Trinkflasche in meinem Handgepäck zu lassen.
Also: Flasche entsorgen (1 Liter auf Ex schaff ich nur nach einem langen Dauerlauf…) und zurück nach ganz hinten, ans Ende der Warteschlange.
Wieder an der Sicherheitsschleuse angekommen, grinst mich der Kontrolleur vor seinem Bildschirm an. Diesmal stimmt alles mit meinem Gepäck. Ich schaffe es doch noch durch den Sicherheits-Check und rechtzeitig zum Gate. Was für eine Leistung!
Erfolgserlebnis #2
Am Flughafen in Amsterdam herrscht chaotisches Treiben. Zum Glück wird meine kleine Reisegruppe mit Philipp Pflieger und Martin Sperlich direkt nach der Gepäckausgabe abgefangen und zu einem Service-Point gebracht.
„Und wie kommen wir denn jetzt zu unserem Hotel?“, frage ich ein bisschen ungeduldig.
„Wir müssen noch auf ein Fahrrad warten“, meint eine der netten Helferinnen.
„Bitte WAS?“ Jetzt übertreiben die Holländer es aber ein bisschen mit ihrem Fahrrad-Tick! Gibt’s hier echt kein anderes Transportmittel für uns?
Ich habe mich zum Glück nur verhört. Wir warten also nicht auf ein Fahrrad, sondern auf einen Fahrer. Der lässt auch nicht lange auf sich warten. Als er uns drei Athleten mit den großen Reisetaschen sieht, äußert er allerdings sofort Bedenken. Ob wir überhaupt in sein Auto passen?
Probieren geht über studieren: Nach ein bisschen Koffer-Tetris, lässt sich die Heckklappe schließen und der Rest wird auf die Sitze verteilt (wobei es unserem Chauffeur seltsamerweise sehr am Herzen liegt, dass mein Handgepäck und nicht einer von uns Athleten auf dem Beifahrersitz Platz nimmt). Naja, wir sind ja zum Glück schlanke Läufer und können uns auch zu dritt und mit Rucksäcken bepackt auf die Rückbank quetschen. Dass wir die ungewollte Polsterung gleich brauchen werden, ist uns zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst.
Aber nur wenige Augenblicke, nachdem wir den Parkplatz des Flughafens verlassen haben, werden wir fast von einem in Höchstgeschwindigkeit heranrasenden Transporter der Polizei gerammt. Unser Fahrer hat die Vorfahrt missachtet und verhindert gerade noch rechtzeitig den Crash mit einer Vollbremsung. So richtig mit Reifenquietschen.
Wir drei auf der Rückbank blicken gegenseitig in die entgeisterten Gesichter der anderen. Das war verdammt knapp!
Der Polizist am Steuer des anderen Wagens sieht das ähnlich und lässt mit strengem Blick sein Fenster hinunter. Unserem Chauffeur ist die Situation sichtlich unangenehm. Den Rest der Fahrt über sind wir alle mucksmäuschenstill.
Beim Hotel angekommen, sind wir ziemlich schnell draußen aus dem Shuttle. Wir sind heil angekommen! Das ist vielleicht nicht als Erfolg meinerseits zu verbuchen, mein Schutzengel hat aber in jedem Fall dazu beigetragen!
Erfolgserlebnis #3
„Wo geht’s hier denn zum Arzt?“
Das ist vielleicht nicht die Frage, die eine Bundestrainerin gern als Erstes hört, wenn eine Athletin zu Europameisterschaften angereist ist. Nachdem Katrin aber schon über meine Verletzung Bescheid weiß, ist sie zumindest nicht komplett entsetzt. Ihre Antwort fällt dennoch ein bisschen kompliziert aus: Da hinten der Gang, dann am Ende bei der Lobby rechts, durch die Glastür, manchmal kommt man da aber nicht durch, dann einfach fragen, geradeaus und irgendwann links, so ein Zimmer, naja das sieht man dann schon…
Klingt ein bisschen nach Weltreise und nicht gerade nach Entspannungskur für meinen entzündeten Fuß. Aber… wo muss ich jetzt nochmal hin?
Katrins Mann Wolfgang, ebenfalls Bundestrainer, versucht sich mit einer leichteren Erklärung: „Einfach den Gang entlang, dann links…“
Damit ist Katrin aber gar nicht einverstanden: „Nein, Wolfgang, rechts!“
„Quatsch, erst nach der Treppe…“
Irgendwie weiß ich nicht so genau, wem ich jetzt glauben soll. Deshalb marschiere ich einfach mal los ins Ungewisse. Das Zimmer der Docs und Physios habe ich dann nach einiger Zeit sogar gefunden – ich bin eben eine echte Spürnase!
Erfolgserlebnis #4
Wenn es etwas gibt, was ich nicht mag, dann ist es stilles Wasser.
Und wenn es etwas gibt, was ich echt komisch finde, dann, dass man in Amsterdam scheinbar kein spritziges Wasser trinkt. Sogar die Iso-Getränke, die wir als Athleten umsonst bekommen oder die Saftschorlen im Speisesaal sind ohne Kohlensäure.
An der Hotelrezeption gibt man mir den gut gemeinten Rat, ich solle doch was aus den Automaten kaufen. Aber selbst dort entdecke ich nur Wasser ohne Sprudel. Soll ich jetzt die ganze Zeit über Cola trinken?
Ich entscheide mich dagegen und trete stattdessen hoffnungsvoll den Weg zur Autobahnraststätte gegenüber unserem Hotel an. Die ersten beiden Schnellrestaurants dort (KFC und BurgerKing) verkaufen nur Wasser im Pappbecher mit Strohhalm. Beim Asia-Wok versuche ich es erst gar nicht. Aber am Ende der kleinen Passage wartet tatsächlich ein Bio-Imbiss mit Plastikflaschen deren Inhalt als licht koolzuurhoudend water betitelt wird. Checkpot!
Ich kaufe den gesamten (allerdings relativ überschaubaren) Bestand auf: 4 Stück á 330ml.
Zwei Flaschen trinke ich sofort aus, den traurigen Rest muss ich mir jetzt gut aufsparen – aber immerhin besser als nix!
Erfolgserlebnis #5
Apropos Wasser: Während meinem Rennen durch die Straßen von Amsterdam (als ich noch rennen kann), habe ich nach einiger Zeit irgendwie das Bedürfnis, meinen verletzten Fuß zu kühlen. Deshalb greife ich bei jeder der Getränkestationen, um die ich sonst immer einen größtmöglichen Bogen mache, nach diesen wassergetränkten Schwämmen.
Die Herausforderung ist dabei, sie möglichst treffsicher über meinem zu schmerzen beginnenden Schienbein und Fuß auszudrücken.
Leider bin ich nicht so gut im Zielen und es wird vor allem mein Trikot patschnass. So nass, dass ich es später im Hotel erst einmal zum Trocknen auf den Balkon lege. Den lebhaften Wind trotz des strahlenden Sonnenscheins bedenke ich nicht so sehr. Und so ein Wettkampftrikot ist ja auch im nassen Zustand immer noch federleicht.
Es dauert also keine zehn Minuten, bis es von seinem Platz verschwunden ist. Nur wohin? Selbst als ich mich todesmutig über die Brüstung des Balkons im vierten Stock lehne, kann ich es nirgends entdecken.
Deshalb mache ich mich gemeinsam mit meiner Zimmerpartnerin Anja Scherl und ihrem wie immer hilfsbereiten Mann Marco auf die Suche: Wir passieren Rettungsflure, Wendeltreppen mit stickiger Luft, und zum Schluss klettert Marco sogar waghalsig über einen Metallzaun, während Anja und ich ihm größtmögliche mentale Unterstützung bieten. Mit geeinten Kräften, sofern sie uns nach dem Wettkampf noch zur Verfügung stehen, bringen wir das schon verloren geglaubte Trikot zurück ins Hotelzimmer. Dort bekommt es ab jetzt einen Trockenplatz im windstillen Badezimmer.
Erfolgserlebnis #6
Während dem Flug zurück Richtung Heimat stellt sich bei mir nicht nur Langeweile, sondern vor allem der Mittags-Hunger ein. Glücklicherweise kommen die Flugbegleiterinnen genau rechtzeitig und servieren ein Lachs-Sandwich mit Mayonnaise. Meine Sitznachbarin bietet mir, nachdem ich den Snack in einer unvorstellbaren Geschwindigkeit verputzt habe, ganz freundlich gleich noch ihr eigenes Sandwich an. Da sage ich nicht nein und greife dankend zu.
Mit ein bisschen was im Magen fällt das Warten bis zur Ankunft in München gar nicht mehr so schwer. Bis man schaut, kündigt der Pilot schon die Landung an.
Die Turbulenzen, die dabei auftreten allerdings nicht.
Mein Magen ist mit seiner Situation plötzlich nicht mehr ganz so zufrieden. Gequält halte ich mir den Bauch. Meine Sitznachbarin bereut es vermutlich, so großzügig zu mir gewesen zu sein. Jedenfalls rückt sie immer wieder ein paar Zentimeter weiter von mir weg. So gut das eben geht in einer engen Sitzreihe.
Mir ist das Ganze furchtbar peinlich und ich überlege fieberhaft, was ich gegen ein zweites Wiedersehen mit zwei Lachs-Sandwiches tun kann. Mit einem Mal vergeht die Zeit wieder wie zähes Kaugummi.
Als die Maschine nach einer gefühlten Ewigkeit auf der Landebahn aufsetzt, bin ich mehr als nur erleichtert. Nach dem Aussteigen muss ich erst einmal tief durchatmen. Damit wäre wohl auch diese letzte Herausforderung geschafft. Endlich wieder fester Boden unter den Füßen. Endlich zuhause.
Aber selbst wenn ich in diesem Moment froh bin, alles hinter mich gebracht zu haben und mir ohnehin nichts übrig bleibt, als nach vorne zu schauen und positiv zu denken – eine Sache habe ich mir nach Amsterdam geschworen: Ich werde wieder zurückkommen. Irgendwann. Und dann wird mir von Amsterdam auch ein Erfolgserlebnis auf der Laufstrecke bleiben. Ganz bestimmt.
Titelbild: Stefan Wolf