Vorab: Da ich die letzten vier Wochen im Bett liegend wohl kein geeignetes Motiv dargestellt habe, herrschte leider ein akuter Foto-Mangel. Deshalb habe ich auf eine sehr archivlastige Bebilderung zurückgegriffen. Und damit meine ich kein Archiv aus vergangenen Jahren, sondern aus dem vergangenen Jahrtausend. Weil ich mich in diesem Text ohnehin mit dem Vergessen beschäftigen möchte, kann ich auf diese Weise in fast verblichenen Erinnerungen schwelgen und ihr bekommt, trotz der etwas traurigen Thematik, zumindest ein bisschen was zum Lachen…
Es gibt Dinge, die vergisst der Körper so schnell, das ist faszinierend. Ich habe zum Beispiel ein Stück Metall an meinem Schienbeinknochen. Das wurde letztes Jahr in mich reinoperiert und nach ein paar Wochen war das Teil echt super integriert. Vielleicht waren Muskeln, Sehnen und Nerven anfangs noch etwas irritiert, weil sie von heute auf morgen den Umweg um eine Platte und sechs Schrauben herum nehmen mussten. Doch lang hat‘s nicht gedauert, bis der Körper das einfach so hingenommen hat. Mittlerweile weiß er schon gar nicht mehr, dass das Metall da eigentlich nicht hingehört.
Es gibt aber auch Dinge, die merkt sich der Körper ganz genau. Die bleiben wie auf einer Langzeit-Festplatte gespeichert und du wirst sie dein Leben lang nicht los – egal ob es sich um Positives oder Negatives handelt. Ich habe mich zum Beispiel als Schulkind auf der Urlaubs-Heimreise vermutlich an irgendeiner dieser widerlichen Autobahnraststätten mit dem Schweinegrippe-Virus angesteckt. Ich lag den Rest der Ferien auf der Couch, fühlte mich furchtbar elend und dachte, jetzt sterbe ich.
Natürlich war das eher eine Horror-Vorstellung, die sich nur in meiner kindlichen Fantasie abgespielt hatte. Denn ich kann aus heutiger Sicht definitiv sagen, dass ich nicht gestorben bin und die Schweinegrippe auch beileibe nicht der bedrohlichste Zustand meines Lebens war. Aber ich fühlte mich so: Völlig zermatscht, leer, kraftlos und müde. Ich war kaum in der Lage, länger als fünf Minuten aufmerksam zu sein. Stattdessen schlief ich. Tagelang.
Und das Faszinierende daran: Jetzt, etliche Jahre später, wusste ich auf einmal wieder ganz genau, wie sich dieses Schweinegrippe-Siechtum angefühlt hatte. Es ging mir nämlich mit einem Mal wieder genau so dreckig wie damals. Die Langzeit-Festplatte „Körper“ erinnerte sich mit einem Mal wieder ganz genau.
Dass ich nochmal die Schweinegrippe hatte, konnte man praktisch ausschließen. Aber was war es dann, was mich ab dem Abend vom 30. Mai so dermaßen aus der Bahn geworfen hatte?
Ich war nach einem moderaten Training nach Hause gekommen und hatte schon die Fahrt über ein komisches Ziehen im Bauch gehabt, dass ich zunächst darauf geschoben hatte, zu viel in zu kurzer Zeit getrunken zu haben. In meiner Wohnung angekommen wurde mir dann aber so richtig übel, ich bekam fürchterliche Schmerzen und fiel einfach so mit Schuhen und Sportklamotten ins Bett. Mein Freund war etwas verdutzt als er nach Hause kam und mich so vorfand. Essen wollte ich nichts mehr, schlafen konnte ich auch nicht und stattdessen bekam ich Schüttelfrost. Das daraufhin einsetzende Fieber wurde ich fast zwei Wochen nicht mehr los.
„Virusinfektion“ hieß es immer wieder von den Ärzten. Jedes Mal, wenn ich wieder zum Blutabnehmen gegangen war, hörte ich nur „Virusinfektion“ und im selben Atemzug: „Ruhe, Pause, Abwarten.“
Ich wollte aber nicht einfach nur abwarten, wenn sich schon zwei Wochen nichts verbessert hatte. Ich wollte eine handfeste Diagnose. Sofort. Welcher Virus war das? Was habe ich für eine Krankheit? Aber niemand konnte wirklich etwas dazu sagen: „Wir können ja schließlich nicht auf alle tausend verschiedenen Viren testen“.
Aber zumindest auf Epstein-Barr-Viren. Das war mein einziger Wunsch: Zu wissen, dass ich kein Pfeifferisches Drüsenfieber hatte. „Der Mononukleose-Schnelltest war negativ“, berichtete mir mein Vater schließlich auch nach dem insgesamt dritten Bluttest. Ich war erleichtert, wähnte mich schon fast wieder unter den Gesunden.
Mein Vater, selbst Internist, bemerkte stattdessen aber vorsichtig, dass er Leute mit derart schlechten Kalium-Werten, wie ich sie hatte, normalerweise stationär ins Krankenhaus einweisen würde.
Ich setzte mich trotzig über seine medizinische Kompetenz hinweg und fuhr lieber regelmäßig tagsüber in die Klinik, um dort Unmengen an Infusionsflaschen in mich reinlaufen zu lassen. Währenddessen schlief ich selig im Büro meines Vaters. Waren die Flaschen leer, stand ich wieder auf, fuhr nach Hause und legte mich in mein eigenes Bett.
Ich wollte nicht ins Krankenhaus. Aber ganz ehrlich: Auch zuhause sein kann sich verdammt falsch anfühlen. Denn eigentlich wusste ich natürlich die ganze Zeit über, dass ich gerade ganz wo anders sein sollte.
Anstatt den ganzen Tag über zu schlafen, hätte ich trainieren müssen. Auch die Uni bekam mich wochenlang nicht zu Gesicht, die übrigen Büroarbeiten, Texte, Korrekturen – alles blieb liegen. Und dann war da ja noch das Trainingslager in St. Moritz…
Das Zimmer war gebucht, die Anreise war für Donnerstag den 28. Juni geplant. Aber ich habe sie nie angetreten.
Die Entscheidung fiel sehr kurzfristig: Wir hatten noch lange gehofft, dass sich mein gesundheitlicher Zustand vielleicht doch sehr schnell wieder bessern würde. Es war so vieles unklar, unsicher, unvorhersehbar. Mal schien es, als ob ich auf dem Wege der Besserung sei. Dann kam wieder das Fieber zurück. Mal konnte ich einen Tag komplett wach bleiben, dafür schlief ich die darauf folgenden quasi wieder durch. Es war ein ständiges Auf und Ab, jedes Blutbild lieferte praktisch die selben Werte. Eine Besserung war lange nicht zu erkennen und einen echten Reim darauf machen konnte sich keiner. Nur eine Sache stand nach wie vor fest: Ich war krank.
Ich konnte mittlerweile schon fast hinschauen, wenn man mir mit einer sterilen Nadel erneut in meinen über und über mit blauen Stellen bedeckten Unterarm stoch. Ich schaute danach mit halboffenen Augenlidern dabei zu, wie wieder mal drei Liter einfach so in mich rein liefen. Dass in mir überhaupt Platz dafür war, wunderte mich jedes Mal erneut. Ich schaute auch weiterhin in scheinbar stoischer Ruhe dabei zu, wie die anderen trainierten, ihre Kilometer sammelten, Rennen liefen und sich alle fokussiert auf das große Ziel der Saison vorbereiteten: Die EM in Berlin.
Ja, die EM. Auch mein Höhepunkt. Auch mein Highlight in diesem Jahr. Und deswegen war das mit der stoischen Ruhe auch nicht mehr als ein Versuch, mir nicht anmerken zu lassen, wie panisch ich allmählich wurde. Den EM-Marathon absagen war für mich noch nie eine ernsthafte Option gewesen, solange ich nicht verletzt bin. Aber die Angst, am 12. August nicht fit zu sein, mich zu blamieren, keine ansprechende Leistung abliefern zu können, verfolgte mich selbstverständlich schon vom ersten Fiebertag an.
Auch wenn das Fieber zum Glück nun überstanden ist und ich allmählich wieder zu Kräften komme, ist sie nach wie vor da. Die Angst ist größer geworden, lässt mich nicht los und macht mich manchmal einfach nur fertig: Ich habe nicht einmal mehr die Hälfte der Zeit übrig, die eigentlich für eine Marathonvorbereitung nötig ist.
Die Uhr tickt unüberhörbar laut in meinem Hinterkopf und den Rest meines Schädels nehmen irgendwelche fiesen Sorgen ein, die sich mit einer langen Krankheitsphase im Leistungssport eben zwangsläufig auch noch einstellen:
Wer kommt für alle entstandenen Kosten auf? Wie soll ich das Trainingslager in St. Moritz finanzieren, dass ja erst weit nach Ablauf der Stornierungsfrist abgesagt werden konnte? Was mach ich mit all den Rechnungen, die jetzt in den nächsten Wochen wieder bei mir zuhause eintrudeln?
Es sind Dinge, die mir den Kopf zerbrechen. Ich gehe schwer davon aus, vom DLV keine finanzielle Unterstützung zu erhalten, für ein nicht angetretenes Trainingslager schon gleich dreimal nicht. Als Studentin habe ich außerdem kein geregeltes Einkommen und wer krank ans Bett gefesselt ist, kann auch schlecht mal ein paar Stunden am Tag arbeiten gehen.
Aufgrund der Vorbereitung auf den Düsseldorf-Marathon, den ich dann wegen Magen-Problemen nicht ins Ziel bringen konnte, habe ich in diesem Jahr außerdem noch mindestens drei weitere Monate in etwas investiert, das sich dann in keinster Weise ausgezahlt hat. Das ist wie umsonst zu arbeiten. Für die EM erwarte ich auch keinen „Lohn“ – außer auf der ideellen Ebene. Berlin ist ein Ziel, das ich aus persönlichen Gründen angestrebt habe und nicht mit Aussicht auf finanziellen Gewinn.
Doch je mehr man über all das ins Grübeln kommt, desto mehr schmerzt es, weil diese schwer vermeidbaren Tiefs im Sport eben auch ganz „unsportliche“ Sorgen verursachen, die meine Ängste nur noch größer machen. Allein deswegen hoffe ich inständig, dass mein Körper bald mit dem Virus fertig ist und ich nicht mehr so viel Zeit damit verbringen muss, nachzudenken. Sondern endlich wieder das tun kann, was ich vor Berlin dringend nötig habe: Trainieren.
Vielleicht gibt es ja dann noch eine Chance, bei der EM einigermaßen fit an der Startlinie zu stehen. In diesem Jahr habe ich viel verloren und oft genug Rückschläge in Kauf nehmen müssen. Aber es bleibt nichts als optimistisch nach vorne zu schauen und langsam zu versuchen, den Körper wieder daran zu erinnern, dass er eigentlich mein wichtigstes Hilfsmittel für die Marathonvorbereitung ist. Dass er die letzten vier Wochen mit Viren beschäftigt war, die Zeit überwiegend in der Horizontale verbracht hat und sportlich so gar nichts mehr gewöhnt ist, muss er dann einfach ausblenden. Es gibt ja schließlich Dinge, die vergisst der Körper so schnell, das ist faszinierend.
Und dann gibt es diese Dinge, die merkt sich der Körper ganz genau. Die bleiben wie auf einer Langzeit-Festplatte gespeichert und du wirst sie dein Leben lang nicht los – egal ob es sich um Positives oder Negatives handelt. Nach dem Schweinegrippe-Feeling noch ein positives Beispiel zum Schluss? Das Gefühl, schnell zu laufen.