Ich habe versucht, sie zu ignorieren, die große mediale Diskussion auf allen möglichen Plattformen, sozialen Medien, in der Fernsehberichterstattung, Radio und Presse – sei sie fachmännischer oder boulevard- und sensationsorientierter Natur. Irgendwie ist man da als Vereinskollegin und Nationalmannschaftskameradin doch immer ein bisschen befangen, oder? Ständig schwanken meine Gefühle zwischen Freude und Erleichterung hin zu Fassungslosigkeit und Ratlosigkeit. So viele Leute bekunden ihre Meinung, ganz egal ob Szenekenner, Profi, Hobbyläufer oder Nichtsportler – und mir fällt es einfach zu schwer, mit meiner Sicht der Dinge hinter dem Berg zu halten.
Aber fangen wir von ganz vorne an…
Wenn ich vom Anfang spreche, bedeutet das in diesem Zusammenhang eigentlich schon einen Schluss, denn es geht um den Zieleinlauf unserer Zwillingsschwestern für Deutschland. Hand in Hand haben Anna und Lisa Hahner die Ziellinie überquert und wurden dort von Anja Scherl in Empfang genommen, die immerhin schon acht Minuten früher und fast vierzig Platzierungen weiter vorne angekommen war. Die Stimmung wirkte noch relativ gelöst und fröhlich: Alle drei Deutschen waren heil ins Ziel gekommen, was bei den heißen Witterungsbedingungen wohl nicht gerade als selbstverständlich genommen werden kann. Immerhin beendeten etliche Athletinnen an diesem Tag vorzeitig das Rennen. So weit so gut.
Dennoch wurde diese trügerisch erleichtert anmutende Stimmung im deutschen Team in den Medien auf zwei völlig unterschiedliche Weisen aufgenommen:
Während die eine Seite frenetisch das Bild der strahlenden Hahnertwins feierte, die mit breitem Grinsen im Gesicht und in geschwisterlicher Eintracht gemeinsam ihr Rennen beendeten, entstand auf der anderen Seite ein regelrechter Shitstorm: Alles nur PR, alles inszeniert, alles nur an der Vermarktung ausgerichtet. Peinlich für Deutschland, wo bleibt der sportliche Einsatz?
In gewisser Weise kann ich beides nachvollziehen. Denn sicherlich: Der Sport lebt von Bildern, von Emotionen, er ist plakativ und in mancher Hinsicht reine Demonstration. Man sehe sich nur die Nahaufnahmen der Sprinter bei ihrer Vorstellung vor dem 100-Meter-Finale an. Das ist Selbstinszenierung, anders kann man es nicht nennen.
Aber auf der anderen Seite geht es bei olympischen Spielen nun auch einmal darum, sein Bestes zu geben, alles aus sich herauszuholen – und das nicht nur aus eigenem Interesse, sondern weil man eine ganze Nation hinter sich hat, die mitfiebert, anfeuert und jeden gebührend feiern soll, nachdem er den Wettkampf beendet hat. Einfach deshalb, weil er gekämpft hat bis zum Schluss. Diesen Kampf bis zum Schluss konnte ich bei den posenden 100-Meter-Läufern trotzdem entdecken, nachdem sie völlig fokussiert auf den Startschuss warteten. Im deutschen Marathon-Team habe ich dieses kompromisslose Alles-aus-sich-herausholen nur bei Anja Scherl gesehen. Ich bin schon oft genug mit ihr laufen gewesen, um sagen zu können, dass ihre Taumelschritte kurz vor der Ziellinie nicht auf einen fragwürdigen Laufstil zurückzuführen sind, sondern allein auf die Tatsache geschuldet waren, dass diese Frau einfach ihre letzten Kräfte mobilisiert hat, um nach dem Finish absolut erschöpft zu Boden zu gehen. Da war kein breites Grinsen mehr möglich, da war Schweiß, Schmerz, Durchhaltewillen – und bei mir in diesem Moment einfach nur eine krasse Gänsehaut.
Bei Anna und Lisa Hahner war der Gänsehaut-Moment vielleicht schon wieder verflogen, aber ich habe mich aber trotzdem sehr mit den beiden gefreut, als sie gemeinsam ihr Rennen beenden konnten: Sie haben sich ihren Traum von Olympia erfüllt. Sie waren mit den weltbesten ihrer Disziplin am Start – auch wenn sie selbst wahrlich nicht dazugehören.
Aber das kann man nicht automatisch bei jeder Olympia-Teilnahme erwarten. Und so viel steht in jedem Fall fest: Alle drei deutschen Starterinnen haben sich ihren Platz im Marathon-Team für Rio im Vorfeld rechtmäßig und aus eigener Kraft erkämpft. Gerne wird die Qualifikation durch gelockerte Normen, Tempomacher, schnelle Marathonstrecken, Rückenwind, optimale Temperaturen oder was auch immer schlecht geredet. Aber mal ganz im Ernst: Schon allein die Tatsache, einen Marathon gefinisht zu haben ist nichts Selbstverständliches. Und viele andere deutsche Frauen haben ebenso alles dafür gegeben, um am vergangenen Sonntag an der Startlinie in Rio stehen zu können. Es ist nicht so, als ob Anna und Lisa Hahner gesagt hätten: „Wir möchten doch so gern da hin“ und der Verband daraufhin sofort geantwortet hätte: „Aber klar nehmen wir euch beide mit. Ihr seid ja schließlich so nett und obendrein auch noch Zwillinge, euch darf man nicht trennen“. Nein, für sie galten die exakt selben Nominierungskriterien wie für Anja Scherl und für alle anderen Sportlerinnen – und: Die Twins haben sie nun einmal erfüllt.
Dass der olympische Traum für sie nicht vergoldet werden würde, stand jedenfalls von vornherein fest. Zu übermächtig ist die Konkurrenz aus Ostafrika, die scheinbar schon genetische Vorteile genießt und darüber hinaus auch noch ein Anti-Doping-System mit sehr vielen Fragezeichen, sehr vielen fragwürdigen Praktiken und sehr viel – ich nenne es einmal – Interpretationsspielraum für mögliche Schlupflöcher.
Sicherlich, auch die Sauberkeit der deutschen Sportler lässt sich nicht zu hundert Prozent nachweisen. Aber sowohl Anja Scherl als auch Anna und Lisa Hahner unterziehen sich regelmäßigen, teils extrem aufwändigen Dopingkontrollen mit Blut- und Urintests. Sie geben ihre Aufenthaltsorte, ihren Tagesablauf und viele andere private Informationen preis, damit die NADA sie rund um die Uhr erreichen und zu Dopingtests verpflichten kann. In den Ländern der Marathonsiegerinnen wird diese Testroutine bei weitem nicht auf derart akribische Weise durchgeführt. Allein aus diesem Grund ist es gerechtfertigt, zu behaupten, die Wahrscheinlichkeit, dass die deutschen Athletinnen gedopt sind, sei deutlich geringer als bei anderen Athletinnen. Ob sich dadurch die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Athletinnen einschränkt, ist jedenfalls nicht auszuschließen.
Also was tun, wo die „Sportnation“ Deutschland doch so gerne ganz vorne mit dabei sein will und einfach keine Medaillen in Aussicht stehen? Man beschafft sich eben anderweitig Aufmerksamkeit. Wenn nicht mit Erfolgen, dann eben mit anderen „Olympia-Highlights“, wie die Website Promiflash.de den Doppel-Zieleinlauf betitelt. Der Laufsport muss den Leuten eben auf eine Weise präsentiert werden, dass sie trotzdem ihr Bedürfnis nach Emotionen, Erfolgen, großen Erfolgen gerecht werden. Und es scheint zu funktionieren. Denn immerhin wurde der dort veröffentlichte Artikel tausendfach gelesen, geklickt, geliked, kommentiert, weiterverbreitet – und das obwohl dort nicht mal ein Wort (!!!) über Deutschlands beste Marathonläuferin Anja Scherl steht.
Aber auch andere Artikel fanden größte Resonanz, die sich genau mit dieser „Problematik“ auseinandersetzten, dass scheinbar nur noch PR anstelle der besten sportlichen Leistung zählt, wie sie Anja Scherl an diesem Tag für Deutschland gebracht hat. Und selbst wenn mit Ergebnissen, Zeiten, Leistungen, schlichtweg mit „handfesten Zahlen“ argumentiert wurde – hier blieben die Emotionen genauso wenig aus: Wütend und weniger sachlich schrieb sich der ein oder andere seinen Ärger von der Seele, wie „schwach“ oder „erbärmlich“ der „viele Lärm um nichts“ der Hahners doch gewesen sei.
Viel Lärm hat Anja Scherl indes nämlich nicht gemacht: Auf ihrer Facebook-Seite, die im Übrigen erst kurz vor der EM in Amsterdam online gegangen ist, hat sie fast 4000 Likes – eigentlich schon eine beträchtliche Menge. Die Hahnertwins haben aber mehr als 16mal so viel, man kann ihnen nicht nur folgen, man kann ihren Club buchen, unzählige Videos schauen und sich Lauf-, Koch- und Trainingstipps geben lassen. Die sonst so frequente Berichterstattung der beiden endete allerdings abrupt bei Kilometer 40 in Rio.
Anja hatte kurz nach ihrem Finish schon längst Dankesworte gepostet. Ich hatte eigentlich gehofft, dass Anna und Lisa Hahner auch wenn, oder gerade weil, sie jetzt so stark für ihren Zieleinlauf kritisiert wurden, weitergemacht hätten wie gehabt und ebenfalls sehr rasch ein Statement abgegeben hätten. Dazu verpflichtet meiner Meinung nach die riesige Fangemeinde, die sie im Gegensatz zu Anja doch noch deutlich stärker gepusht hat. Ihre Follower ließen sie bis zum Folgetag jedoch im Unklaren – Fragen kamen auf: Stehen Anna und Lisa plötzlich nicht mehr hinter ihrem Verhalten?
Dann endlich das lang ersehnte Zeichen aus Rio: „Ob wir alles gegeben haben? Was für eine verdammt blöde Frage.“ Keine zwanzig Minuten später gab es dafür bereits über tausend Likes – und etwas anderes war doch auch nicht zu erwarten! Die händchenhaltende Geste entspricht dem Bild, das die beiden von sich in der Öffentlichkeit präsentieren. Sie sind sich eben auch beim Olympia-Marathon auf ihre Weise treu geblieben – ich sehe hier nichts Verwerfliches.
Hier liegt einfach ein anderes Verständnis von Sport vor, als das, wie es Anja Scherl an den Tag legt.
Ob man es nun besser findet, wenn Athletinnen strahlend und mit bester Laune über die Ziellinie laufen oder aber völlig ausgepowert vom Kampf bis zum letzten Meter in die Knie gehen – das muss doch am Ende sowieso jeder ganz für sich allein entscheiden.
Schöner Text, in dem viel Nachvollziehbares steht.
Nicht ganz richtig ist aber die Aussage in deinem Text, dass die Hahners die Olympia-Norm genauso geschafft hätten wie Anja Scherl. Letztere hat (ebenso wie der leider verletzte Gabius) die alte Original-Olympia-Norm geschafft. Für die Hahners wurden extra weichere Normen, insbesondere auch auf Betreiben der großen Deutschen Marathonveranstalter, die sich mit mehr deutschen Marathonläufern in Rio zusätzliche PR für ihre eigene Rennen erhoffen, geschaffen und diese Normen wurden sekundengenau gerade so definiert, damit es die Schwestern beide nach Rio schaffen.
http://www.tagesspiegel.de/sport/durch-neue-normen-vier-weitere-marathon-laeufer-fuer-rio-qualifiziert/12886436.html
Mehr muss man dazu wohl wirklich nicht sagen !!
Quelle: Leichtathletik.de
Olympische Einstellung der Hahner-Twins in der Kritik
Pamela Ruprecht
Die Zwillinge Anna und Lisa Hahner (beide run2sky.com) haben mit ihrem gemeinsamen Zieleinlauf „Hand in Hand“ beim olympischen Marathon am Sonntag in Rio de Janeiro für mediales Aufsehen gesorgt, aber gaben auch Anlaß zur Kritik unter anderem von DLV-Sportdirektor Thomas Kurschilgen. Das Tempo, das sie auf den Plätzen 81 und 82 an den Tag legten, ließ den kämpferischen Sportsgeist des Großereignisses vermissen.
Die Hahner-Zwillinge Anna (2:45,32 min) und Lisa (2:45,32 min) haben ihr olympisches Marathon-Rennen mit mehr als 21 Minuten Rückstand auf die Siegerin und mit mehr als 15 Minuten von ihren Bestleistungen entfernt auf Platz 81 und 82 des olympischen Finales beendet. „Es wirkte so, als absolvierten sie einen Volkslauf und nicht die olympische Entscheidung“, sagte DLV-Sportdirektor Thomas Kurschilgen.
„Wenn Platzierung und Zeit bei einem olympischen Wettbewerb, wie es die beiden Athletinnen unmittelbar nach dem Zieleinlauf formulierten, in den Hintergrund treten, dann ist das respektlos und ein Schlag ins Gesicht gegenüber allen anderen Athleten der deutschen Olympiamannschaft, die in Rio antreten“, erklärte Kurschilgen weiter.
Leistung soll Priorität vor PR-Strategie haben
Die Hahner-Zwillinge hätten mit ihrem Auftritt und ihren Leistungen „einen olympischen Lorbeer“ nicht verdient, so der DLV-Sportdirekor. „Hand in Hand geht man spazieren, aber nicht über eine olympische Marathon-Distanz. Bei Olympia darf die PR-Strategie nicht über den Interessen einer deutschen Nationalmannschaft stehen, sich über die individuellen Leistungen als erfolgreiches Nationalteam bei Olympia zu präsentieren.“
Als beste Deutsche war nicht nur die Regensburgerin Anja Scherl (Platz 44 mit 2:37,23 min) deutlich schneller als die Hahners. Auch Mayada Al-Sayad, die national im Trikot des 1. VfL Fortuna Marzahn antritt und die deutsche und die palästinensische Staatsbürgerschaft besitzt, lag in Rio weiter vorne. Sie trug bei der Eröffnungsfeier die Fahne für Palästina und lief für dieses Land in 2:42:28 Minuten auf Position 67.
Wo er recht hat, hat er Recht.
Ps.
Durch solch verhalten braucht man sich nicht zu wundern, wenn es bei der Vergabe von Sendezeiten, Sponsoren… etc. dann erst einmal düster für die Leichtathletik aussieht. Geldgeber wollen auf Dauer Leistung sehen und nicht irgendwelche Smiley´s.
Und ein Schalk ist, der böses dabei denkt, wenn er auf den Medaillenspiegel schaut und dann sagt , na guckt Euch doch mal die Zwei an. Kein Wunder.
Ich wollte mich eigentlich nicht dazu äußern, aber die Argumentation in Ihrem kopierten Artikel ist ebenfalls fragwürdig: Sponsoren mögen Show und Berichterstattung. Damit ist die PR-Strategie (soweit sie es denn war) der Hahner-Zwillinge voll aufgegangen, würde ich sagen.
Grundsätzlich bin ich auch der Meinung, dass eine solche „Show“ da nicht hin gehört. Aber ich war nicht dabei und ich weiß auch nicht, was da noch eine Rolle gespielt hat. Vom Sofa aus kann jeder alles besser kommentieren – das ist bald wie beim Fußball, wo jeder Cheftrainer ist und weiß, warum der eine Spieler doch besser den Ball anders spielen hätte sollen.