Geoffrey Kiprono Mutai “spricht seine üblichen Gebete. Er bittet um Gnade. Um Stärke und um Mut. Darum, dass ihn seine sehnigen Beine, die schon Zehntausende Trainingskilometer in sich haben, noch 42 Kilometer und 195 Meter tragen. Er bittet nicht um ein Wunder.“ (S.11)
Unvorstellbar sind die Leistungen trotzdem, die unsere Top-Läuferinnen und -Läufer auf die Straßen bringen. Unvorstellbar, zu was ein Mensch in der Lage ist.
Jan-Ove Becker beispielsweise ist Anwalt und hat sich mithilfe seiner Freundin und zugleich Trainerin Jophi Betche in weniger als drei Jahren vom eher trägen, sesshaften Zeitgenossen zum Ironman 70.3 modellieren lassen. Damals waren es noch realitätsfremde Vorstellungen. Aber Jan-Ove ist das Paradebeispiel, was mit Disziplin, Ehrgeiz und vor allem Zeitmanagement (bei einem selten unter zwölfstündigen Arbeitstag) doch MACHBAR ist.
Letztes Jahr lief er in Hamburg sein Marathon-Debüt. Seine Wunsch, unter vier Stunden zu bleiben, verfehlte er nur knapp. Heute, einen Tag vor Berlin, hat er seine Wunschzielzeit noch einmal nach unten korrigiert – von ursprünglich geplanten 3:30 auf 3:45 Stunden. Dies mal verweigerten ihn andere „persönliche Grenzen“ – sein Arbeitsalltag – eine effizientere Vorbereitung, sodass der eigene Realismus wieder um Einsicht bat. Einsicht, die Druck nimmt.
Für den einen mögen 3:30:00 Stunden (noch) zu weit daher gegriffen sein und für den anderen sind unter fünf Stünden ein stolzes Ziel. Die Grenzen liegen bei jedem anders – unvorstellbar ist also relativ. Und doch nähern wir uns jenen Grenzen Stück für Stück, sodass unvorstellbar letztlich doch machbar wird.
Für Mutai geht es aber um mehr…
“Als er an der Berliner Startlinie steht, ist ihm bewusst, dass seine Familie wegen ihrer Häuser, ihres Essens, der Schulgebühren ihrer Kinder (…) auf ihn angewiesen ist.“ (S.12) Mittags könnte er bereits um eine halbe Million Dollar reicher sein. Während aber der Druck lastet, kitzelt gleichzeitig der kämpferische Ehrgeiz in einem.
Wie auch bei Michael Parzefall oder nur “Partzi“ genannt. Bislang ist der gebürtige Bayer sechs Marathons gelaufen. Und jedes mal wieder: Nervenkitzel vom Feinsten!
“3:15/3:20 ist mein Ziel.“ 12 Wochen Training, 930 km liegen hinter ihm. Die Anspannung staut sich. Aggressiv ist er wie jedes Mal auf Bestzeit aus. In den letzten 1 1/2 Jahren hat er sich so um ganze 40 Minuten verbessert. “Ich muss immer aufs Ganze gehen, bin dann am Ende aber auch platt. Und jedes Mal diese Anspannung. Bin einfach kein Adrenalinjunkie. Das macht mich echt fertig. Es soll jetzt endlich los gehen!“
Mutai ist 200 Kilometer die Woche gerannt – „…nur, weil man das Gefühl erlangen will.“ Den Flow… oder wie Mutai sagt “den Spirit“. Tausende Stunden des Leidens für ein paar süße Minuten: Geschwindigkeit und Leichtigkeit, Kraft und Anmut. Je härter du trainierst, sagt er immer, desto näher kommst du dem Spirit… er holt dich ein.“ (S.13)
Teilweise sind manche Trainingseinheiten härter als der Wettkampf selbst. Aber wer einen Marathon unter 2h und drei Minuten laufen will, bei dem wird es alles andere als genüsslich.
“Wenn der Körper zum Werkzeug einer Mission wird…“ (S.14)
Eine Mission, die allen Zweiflern trotzen soll. Schauen wir nämlich nach Boston auf das Jahr 2011: Mutai beendet nach 2:03:03 Stunden das Rennen und unterbietet damit nicht nur den Streckenrekord um drei Minuten, sondern damals zugleich den Weltrekord von Haile Gebreselassie.
Aber nur inoffiziell. Denn obwohl Boston zu einem der traditionellsten Marathons gehört, entsprach er nicht den Streckenstatuten, die einen Weltrekord rechtfertigen würden. Laut IAAF musste ein Weltrekord nämlich auf einer Strecke gelaufen werden, bei der Start und Ziel nicht weiter als die Hälfte der Streckendistanz auseinander liegen und die insgesamt kein größeres Gefälle als ein Meter pro Kilometer aufweist. Da Boston die Kriterien also nicht erfüllte, musste es lediglich bei einer persönlichen Bestzeit bleiben.
Normalerweise plädiere ich gerade in der heutigen Zeit ja dafür, Leistungen immer an sich selbst festzumachen und die Umstände dabei außen vor zu lassen.
Wie Martin Brauns Marathonsammlung im vergangenen Jahr, wo er in gerade mal 12 Monaten zehn Marathons finishte! Am Ende eines Rennens ging er mit seiner grandiosen Zeit (PB 3:14h) absolut gesehen vielleicht unter, aber relativ betrachtet, legte er eine unfassbare Leistung an den Tag! Gerade wenn man bedenkt, dass Elite-Läufer – einmal unabhängig vom Leistungsanspruch – maximal drei Marathons im Jahr laufen!
Persönliche Bestzeiten sind schließlich ein ganz individueller Erfolg und den stolzen Geschmack sollten wir uns nicht versalzen lassen.
Dennoch, wenn es wie im Fall von Mutai an Statuten scheitert und seine Leistung am Ende (wie es seitens Kritikern heißt) nur am Rückenwind gelegen haben soll, ist es einfach nur frustrierend und man lechzt vergebens nach der verdienten Wertschätzung. Der Wind mag an jenem Tag stark gewesen sein, aber trotzdem blieb der Kurs hügelig und nahm nicht wie auf See Einfluss auf den Wellengang. Und auch Berg ab laufen ist nicht gerade muskulär unanspruchsvoll.
Deshalb glaubte Mutai an seine Leistung und wollte es allen beweisen: am 29. September 2012 in Berlin!
Dort plant er den bis dato von Patrick Makau aufgestellten Weltrekord von 2:03:38h zu brechen. Auch die Zwei-Stunden-Marke sei irgendwann zu knacken: “Es liegt nicht an den körperlichen Anlagen, sondern wie die Rennen angelegt sind.“ (S. 21) Es müsse sich mehr um die Grenzen des körperlich Möglichen drehen als immer nur ums Gewinnen und Verlieren.
In Berlin liegt aber noch eine Zwei-Null-Zwei plus X im Rahmen seines Möglichen, glaubt er. Seine Tempomacher sollen ihn in 61:30 Minuten bis zur Hälfte bringen. “Noch nie hatte ein Läufer um ein solch schnellen Split gebeten.“ (S.23) Auch Jan Fitschen schmunzelte damals über Mutais Vorhaben, wo er doch selbst hoffte, die erste Hälfte in 67 Minuten zu laufen.
Bist du ab Kilometer 30/32 ganz auf dich allein gestellt… Das macht bei den meisten Läuferinnen und Läufern zwar keinen Unterschied – die Kilometer müssen sie von Anfang an allein hinter sich bringen – aber auf dem Niveau von Mutai zählt jeder Windzug, jede Unebenheit und jede Sekunde.
Kilometer fünf: die Anzeige am Führungsfahrzeug friert ein, gefolgt von einer trügerischen Fehlanzeige, die anstelle der 2:50er Pace eigentlich einen drei Minuten-Schnitt anzeigen sollte. Das würde am Ende ’nur‘ für 2:06 Stunden reichen.
Es dauert seine Zeit (Zeit, die man nicht hat) bis sie den Fehler entdecken. Ein Schock, von dem sich Mutai aber nicht beirren lassen darf. Hier punktet das Motto – „Marathon ist zum großen Teil auch Kopfsache“ – einmal mehr.
Mutai zieht also an und passiert die Halbmarathon-Marke mit 42 Sekunden unter dem anvisierten Split. Trotzdem, eine Zeit unter 2:03 Stunden ist nicht mehr möglich. Auf diesem Niveau zählt jede Sekunde und die 42 plus auf der ersten Hälfte – wo die zweite bekanntlich langsamer läuft – macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Und alles wegen eines technischen Problems!
Keine Zeit (wortwörtlich) für Sentimentalität. Das Visier wird neu ausgerichtet und der Weltrekord von Makau – die 2:03:38h – in Angriff genommen.
Kilometer 30: nur noch Mutai und Kimetto teilen sich die Spitze. Wie schon im Trainingslager hetzen und puschen sie sich gegenseitig. Rennen die fünf Kilometer bis zur 35er Marke in 14:18Min!!
Endspurt: der Weltrekord wieder in Reichweite.
Dann aber Kilometer 40 und die acht Sekunden drüber
Krämpfe. Schmerzen in der Hüfte. Schmerzen im Rücken. Kimetto im Nacken. Und das bleibt auch bis ins Ziel so! Sodass Mutai am Ende mit 2:04:15h in Berlin gewinnt und trotzdem verliert.
Quelle: “Zwei Stunden – vom Traum, den Marathon zu laufen“ (Buch von Ed Cesar)