Kennt Ihr auch ältere Menschen, die vormittags auf dem Sportplatz oder im Stadtgarten mit schwunghaften Gymnastikübungen den Tag beginnen?
Der Sportplatz an unserer Schule ist öffentlich und so bestaunen meine Schüler*innen regelmäßig das sportliche Treiben der Anderen. „Was macht der denn da?“ oder „Krass, das kann ich nicht.“
Und obwohl mancher von uns vielleicht auch schmunzeln würde, können die Kinder den Blick kaum abwenden, denn diese Menschen sind oft unglaublich fit. Das beeindruckt auch pubertierende Nachwuchssportler, das vorherrschende Bild von Oma und Opa ist sportlich nämlich oft eher defensiv.
Wie kommt es also, dass diese „alten Meister“ – so nennt man in der Reitkunst erfahrene Sportler*innen, die ihr Wissen weitergeben – noch so fit sind und was können wir für unser tägliches Training von ihnen lernen?
Lange Zeit glaubte man, dass der körperliche Verfall Teil des Alterungsprozesses ist. Viele Studien zeigen heute aber, dass der Körper sich zwar verändert, Schmerzen und Verletzungsrisiko jedoch vor allem durch veränderte Gewohnheiten und stetig weniger Bewegung entstehen. Dazu später mehr.
Das Mobilisieren soll die Beweglichkeit der Gelenke verbessern und auf sportliche und alltägliche Belastungen vorbereiten. Ziel ist es, den Bewegungsumfang zu erweitern, zu erhalten oder wiederherzustellen. Lange Zeit wurde das Mobilisieren eher stiefmütterlich behandelt, vielleicht auch wegen der schwierigen Datenlage zum Dehnen – viele Übungen lassen sich schließlich auch hierfür nutzen. Heute sehen wir es aber wieder häufiger. Die altbewährten Übungen avancieren zum neuen Bewegungstrend.
Um zu verstehen, warum dieses Training so wichtig ist, wie und warum es funktioniert, müssen wir uns den Aufbau von Gelenken genauer ansehen:
Der Mensch besitzt etwa 140 echte Gelenke und insgesamt 212 gelenkige Verbindungen.
Echte Gelenke finden wir, wenn zwei Knochen aufeinandertreffen. Sie ermöglichen dort eine erhöhte Beweglichkeit des Körpers. Man stelle sich beispielsweise ein Bein ohne funktionelles Knie vor, also z.B. mit fester Schiene. Der Kniehub beim Laufen wäre nicht möglich, der Schritt dadurch deutlich verkürzt.
Zwei Knochen, die aufeinandertreffen, bilden ein Gelenk. Dieses Gelenk wird geschützt durch eine Hülle aus Bindegewebe (die Membrana fibrosa), ausgekleidet mit einer schwammartigen Schicht (die Membrana synovialis), welche die Gelenkschmiere produziert. Man spricht auch von der schützenden Gelenkkapsel.
Die Gelenkschmiere (Synovia) schützt unsere Knochen und Knorpel vor Abrieb, wie es Seife an einer Kreidetafel tun würde (ein fieser Scherz von Abschlussjahrgängen). Sie wird erst mit dem Aufwärmen produziert. Um den Knorpel und die Knochen zu schützen, sollte man sich daher stets mindestens 10min lang gut aufwärmen, z.B. durch lockeres Joggen, Radfahren oder am Ruderergometer.
Das Bindegewebe der Gelenkkapsel schützt das Gelenk vor äußeren Einflüssen und stabilisiert es gemeinsam mit Sehnen und Bändern. Ist sie defekt (z.B. durch einen Kapselriss), dringt beispielsweise Blut in den Gelenkspalt. Das Gelenk wird dick, unbeweglicher und schmerzhaft. Der Knorpel nimmt Schaden.
Wie ein Gummiband kann man sich das Bindegewebe vorstellen, welches man auseinanderziehen und flitschen lassen kann. In seiner Funktion muss es reißfest, aber auch elastisch sein. Gut tastbar ist eins unserer stärksten Bindegewebe, die Achillessehne, oberhalb der Ferse.
Das Bindegewebe benötigt Dehnungsreize, um dicker und straffer zu werden. Dies erreicht man bei den Gelenkkapseln durch Bewegungen über die gesamte Bewegungsweite (auch Bewegungsamplitude) eines Gelenks, also z.B. mit Hilfe von dynamischen Mobilisationsübungen oder Krafttraining (z.B. die tiefe Kniebeuge, – einmal richtig erlernt und individuell angepasst eine echte Lebensübung – bei der direkt mehrere Gelenke mobilisiert werden).
Unsere Gelenke werden durch das Bindegewebe nicht nur geschützt, es ist auch Sitz wichtiger Sensoren, die unser Gehirn darüber informieren, wie die Knochen im Raum und zueinanderstehen, wie die Kräfte (z.B. Druck, Vibration) im Gelenk wirken und ob es irgendwo zu Verletzungen gekommen ist1.
„Use it or lose it!” oder zu deutsch „Wer rastet, der rostet.“
Diese Sätze gelten neben Muskeln auch für alle anderen Gewebe in unserem Körper.
Trainieren wir unser Bindegewebe der Gelenkkapseln nicht, wird nicht nur diese Struktur abgebaut, auch die Sensoren darin verkümmern allmählich, unser Gehirn erhält dann weniger Informationen und das Verletzungsrisiko steigt, weil wir zu langsam reagieren. Häufig kommt es dann zum Umknicken oder sogar zum Sturz. Verletzen wir uns dann, z.B. mit einem Bänderriss, folgt meist eine Phase der Schonung, die mit noch weniger Bewegung verbunden ist und zu weiteren Abbauprozessen führt. Das Verletzungsrisiko steigt weiter.
Mit dieser Negativspirale entwickelt sich oft eine gewisse Angst vor Bewegung, die ja schließlich ursächlich für Verletzung und Schmerz erscheint. Da unsere Gefühle unsere Gedanken und damit Entscheidungen beeinflussen und so unser Handeln maßgeblich mitsteuern, gewöhnen wir uns an uns noch weniger zu bewegen. Die Gelenke fühlen sich nicht gut an, Bewegung führt irgendwann zu Schmerzen. Man fühlt sich „eingerostet“. Langfristig sind unsere Gelenke dann nicht mehr stabil oder versteifen, es entstehen Veränderungen an den Knochen und Knorpeln. Wenn ein Gelenk eingeschränkt wird, müssen die benachbarten Gelenke den Mangel an Beweglichkeit ausgleichen und werden selber instabil.
Mobilität kennt keine Altersgrenzen
Genial ist aber, dass wir diese Negativspirale jederzeit und in jedem Alter durchbrechen können. Denn umgekehrt gilt, dass wir jedes Gewebe in unserem Körper durch geeignetes Training und eine progressive (also allmähliche) Belastungssteigerung verbessern können. Dafür benötigt man nur ein wenig Fleiß und Geduld, nach ein paar Tagen kann man oft erste Verbesserungen spüren, nach etwa zehn Wochen sind schon deutliche Veränderungen feststellbar. Es lohnt sich also eine tägliche Ganzkörpermobilisation in den Alltag einzubauen, wie es uns die „alten Meister“ auf den Sportplätzen der Nation vorleben.
Denn ihr Training ist gesundheitlich hochintelligent! Etwa 5 bis 10min am Morgen oder auch mal nach harten oder sehr langen Trainingseinheiten reichen schon aus.
Damit man möglichst keine Körperregion verpasst, mobilisiert man idealerweise „von oben nach unten“ oder „von unten nach oben“. Ich beginne am liebsten mit den Sprunggelenken und arbeite mich dann hoch. Ein Beispielvideo dazu, findet ihr ab jetzt auf meinem Instagram-Profil @nini__liebt_laufen.
Gerne kann man das Programm ganz individuell abstimmen, Übungen ergänzen, austauschen oder sogar mit Dehnübungen verbinden. Vielleicht liegen einem aber auch mobilisierende Programme wie beim Vinyasa-Yoga. Wichtig ist, dass es gut tut und langfristig Freude bereitet, denn dann bauen wir es auch als Ritual in unseren Alltag ein.
Eines sei aber jetzt schon gesagt: Es wird sich lohnen!
Literatur:
1 Hofmaier, Armin (2005). Propriozeptionsmessungen am Kniegelenk unter kritischer Betrachtung wissenschaftlicher, methodischer und messtechnischer Gesichtspunkte. Westfälische Wilhelms-Universität Münster. S.27 ff.
2 Schünke, Michael (2018). Funktionelle Anatomie für Physiotherapeuten. Topografie und Funktion des Bewegungssystems. 3. Auflage. Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart. S. 42 ff.
Van den Berg, Frans (2011). Angewandte Physiologie 1. Das Bindegewebe des Bewegungsapparates verstehen und beeinflussen. 3. Auflage. Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart. 3S.62 ff., 4S.81 ff., 5S.182 ff.