Vorab: Ich möchte nicht, dass dieser Text den Eindruck erweckt, ich hätte meine Reise nach Berlin bereut. Selbstverständlich hat es wehgetan, nicht aktiv ins Geschehen eingreifen zu können und deswegen sind meine Gedanken sicherlich an einigen Stellen etwas trüb eingefärbt. Nichtsdestotrotz habe ich sehr viel schöne und emotionale Momente erleben dürfen und auch sehr viel Motivation aus Berlin mitgenommen. Die Erinnerungen werden zwar immer einen seltsamen Beigeschmack haben, aber das ändert nichts daran dass die EM 2018 ein würdiges Fest der Leichtathletik war, mit tollen Gästen und vielen unvergesslichen Highlights. Danke hierfür.
Die S-Bahn spuckt mich am Zoologischen Garten aus. An den Treppenstufen mache ich Halt. „Bist du allein da?“ Die Frage werde ich an den kommenden drei Tagen noch häufiger gestellt bekommen. Und meine Antwort lautet jedes Mal gleich.
„Dann soll ick dir wohl helfen?“, meint der tätowierte Mann mit Käppi weiter. Ich habe Lust, ihn abblitzen zu lassen. So schwer ist mein Koffer nicht. Trotzdem nicke ich abwesend und beobachte, wie mein Gepäck die Stufen hinuntergetragen wird. Unten angekommen nicht mehr als ein „Danke, ciao“, ich will ins Bett, es ist spät. Vorher muss ich aber noch mein Hotel finden. Und das gestaltet sich schwierig: Hier ist nachts auf den Straßen mehr los als tagsüber in meiner Heimatstadt. Ach, Berlin, Berlin.
Kennt das noch jemand? Berlin, Berlin, so hieß auch mal eine Daily-Soap aus den Jahren 2002 bis 2005. Eindeutig vor meiner Zeit. Aber die neue Staffel von 2018 ist eh viel besser: Mit dabei ist als Hauptdarstellerin nicht mehr Felicitas Woll, sondern Gesa Felicitas Krause. Nach wie vor gibt es in allen Folgen des einwöchigen Serien-Revivals ganz viel Liebe, Verzweiflung, Freude, Leidenschaft, Tragik und Intrigen. Wahnsinniges Drehbuch. Beeindruckend umgesetzt. Aber mit Happy End?
Bevor ich es herausfinden kann, bin ich immer noch auf der Suche nach meiner Unterkunft. Ein Volunteer im blauen Shirt begleitet mich auf dem Weg. Wir unterhalten uns gut. Ob ich allein da bin?
Beim Einschlafen denke ich an nicht viel, nur so ein bisschen was wie: Ich will mir nicht entgehen lassen, was mir zusteht. Ich will jetzt das erleben, was ich mir verdient habe. Ich will dabei sein. Ich gehöre nach Berlin. Ich bin in Berlin. Berlin. Du bist so wunderbar Berlin…
Nächster Morgen. Nächste Folge der Soap, die tausende Serienjunkies wie besessen verfolgen: Fast schon trügerisch scheint die Sonne. Dazu regnet es ein bisschen. Der Wind weht. Ich habe nur kurze Hosen dabei. Einen Rock finde ich auch noch im Gepäck, den ziehe ich an. Komisches Outfit für eine Europameisterschaft. Immerhin ein Trost: Laufschuhe.
Draußen auf dem Breitscheidplatz ist die Stimmung genial. Nur mal so zum Realisieren: Das ist ein Geh-Wettbewerb und unzählige Leute rasten aus, dass es eine wahre Freude ist. Sogar obwohl es schon wieder regnet. Als ich mich mit einer Freundin bei einem Pavillon unterstellen will, erklärt man uns: „Hier nicht. Das ist nur für Teilnehmer des Wettkampfs“.
Es geht tragischerweise um Teilnehmer bei der Spaß-Olympiade für Zuschauer, nicht um die Teilnehmer des „echten“ Wettkampfs, der EM. Wobei, da zähle ich ja nun auch nicht mehr dazu. Manchmal habe ich das in meinem Hirn noch nicht so ganz kapiert. Verdrängen, ist nicht immer die effektivste Strategie: Statt tagsüber daran zu denken, träume ich nun nachts regelmäßig vom Marathon auf den Straßen Berlins. Meistens sind es Alpträume.
Als ich sehe, dass auch das couragierte 20km Gehen für Christopher Linke gegen Ende zum Alptraum wird, bin ich wütend: Ich finde es verdammt unfair, wenn ich jetzt schon raus bin, wenn Anja auch raus ist und wenn so viele andere, hoffnungsvolle Athleten hier ebenfalls nicht dabei sein können, dass dann andere, die sich dem Ganzen hier stellen, trotzdem nicht ein bisschen mehr vom Glück abbekommen. Was ist das für ein bescheuertes Soap-Drehbuch?
Bin ich schuld? Hab ich mich nicht an die Regieanweisungen gehalten? Ich hab ja nicht mal versucht, mitzuspielen, obwohl mir eine Rolle zugeteilt wurde. Ich hab sie einfach abgelehnt. Und mir ist es plötzlich fast schon peinlich, wenn ich Athleten aus dem deutschen Team umarme. Wenn ich ihnen viel Glück wünsche oder sie beglückwünsche.
Alle sind fit. Alle sind trainiert. Alle sind motiviert und bereit dazu, ihr Bestes zu geben. Ich stehe daneben und fühle mich schwabbelig. (Und ich weiß, dass man das als zerbrechliche Marathonläuferin nicht sagen darf, ohne in diese Klammer zu schreiben, dass das eine sehr subjektive und nicht der Realität entsprechende Wahrnehmung ist, um einen Shitstorm oder Vorwürfe wegen Magersucht zu vermeiden.) Aber ich kann nichts dafür. Mir fällt gerade kein besseres Wort ein. Ich könnte auch „Ich fühle mich scheiße“ schreiben, aber scheiße sagt man nicht. Es ist nur einfach so, dass ich in diesem Moment gerne so wäre, wie die anderen. Ich bin neidisch, ja ich geb’s zu.
Neid ist ein böses Wort. Aber es ist nicht missgünstig gemeint. Ich freue mich ja mit allen Athleten, die gut sind. Ganz egal aus welchem Land. Ich feiere diese Soap hier, weil sie doch irgendwie Spaß macht, weil sie mich süchtig macht, weil ich Leichtathletik liebe und weil es mein verdammter Traum war, auch mal bei sowas dabei zu sein. Weil ich genauso ein Serienjunkie bin und besessen verfolgen will, wie es am Sonntag, in der letzten finalen Folge ausgehen wird.
Und immerhin bin ich hautnah dabei. Ich kann es spüren, anfassen, anschauen, ich höre den Startschuss, die Glocke für die letzte Runde, ich schwitze sogar ein bisschen in der Sonne und bin am Abend müde und erschöpft.
Aber es ist trotzdem nicht das Gleiche wie selbst zu laufen. Hier zu sein ist schön, aber furchtbar-schön. Es macht Spaß, aber es ist ein Höllen-Spaß. Ich bin in einer Blase voll mit einem Cocktail aus tausend zusammengemischten Gefühlen. Ich schwimme in dieser großen schwabbelige Blase.
„Bist du allein hier?“, höre ich jetzt nur noch aus der Entfernung. Die Worte dringen nicht mehr so klar zu mir durch, ich sehe auch schon nicht mehr so gut. Nur das Gröbste erkennt man noch wie vor einem flimmernden Bildschirm.
Dort geht gerade die neue Staffel von Berlin, Berlin zu Ende und es gibt tatsächlich ein, fast schon kitschiges, Happy End. Spannend, aber im Nachhinein vielleicht doch keine große Überraschung: War schließlich bei allen vorausgehenden Staffeln mit Schauspielerin Felicitas Woll auch der Fall.
Die neue gefeierte Hauptdarstellerin Gesa Felicitas Krause gewinnt zum Schluss ihr Rennen, dreht unter den Augen tausender, immer noch wie gebannt glotzender Serienjunkies ihre Ehrenrunde, ein junger gutaussehender Mann steigt über die Bande, sie fällt ihm um den Hals und die beiden küssen sich. Ein romantischer, erlösender Moment, aber mein Herz bekommt einen Stich. Ich bin schließlich alleine da.