Wann verläuft bei der Wettkampfvorbereitung schon mal alles nach Plan? Eigentlich nie. Zumindest bei mir nicht. Am Samstag stand ich in Celle bei der Deutschen Meisterschaft über 10000m an der Startlinie. Wie das Rennen letztendlich ausgegangen ist, kann man jederzeit und über verschiedene mehr oder weniger zuverlässige Quellen erfahren. Was allerdings vor dem Wettkampf im Läuferleben so alles passiert, bleibt meistens im Verborgenen…
Samstag, 30. April – 17.30 Uhr
Ich habe mich ja mit allen Mitteln dagegen gewehrt, sogar todesmutig ein alternatives 4x3000m-Tempotraining vorgeschlagen, aber es war alles umsonst: Auf das 3000m-Rennen im Heimstadion besteht mein Trainer felsenfest. Das ist eine super Vorbereitung auf meinen Start bei den Deutschen Meisterschaften am kommenden Wochenende. Sagt er.
Ich sehe das anders, denn immerhin ist die Strecke dort ja mehr als dreimal so lang – um genau zu sein 25 Stadionrunden! „Na dann läufst du halt einfach noch 2000m vor dem Rennen“, schlägt mein Coach vor. Habe ich gerade vorschlagen geschrieben? Ich meine natürlich: Bestimmen. Denn das, was der Coach sagt, wird gemacht.
Und so laufe ich am Samstagabend zunächst ganz allein auf der Bahn meine 2000m, bei denen ich zumindest die Aufmerksamkeit der Zuschauer und der Fotografen ganz für mich alleine habe. Danach begebe ich mich dann doch noch ins Getümmel des 3000m-Feldes. Da hat man erstens viel mehr Windschatten und zweitens doch irgendwie mehr Spaß als im Alleingang.
Meine Endzeit ist dann auch durchaus zufriedenstellend. Alles gar nicht so schlimm wie befürchtet und eigentlich habe ich sogar ein ziemlich gutes Gefühl. Wenn der Lauf in einer Woche auch so locker geht, wird bestimmt alles gut.
Sonntag, 1. Mai – 10.00 Uhr
Es soll im Sport ja ab und zu ganz hilfreich sein, als Ablenkung auch mal über den Tellerrand hinauszuschauen und in fremden Gewässern zu fischen, habe ich mir sagen lassen. In diesem Fall habe ich das Ganze wörtlich genommen und mich tatsächlich ans Wasser begeben. Wohl gemerkt ans Wasser, denn in das Sportlerbecken im Regensburger Westbad hüpfe ich (nicht nur heute) ganz bestimmt nicht hinein.
Stattdessen lasse ich es heute mit meiner nachwettkämpflichen Erschöpfung ein bisschen ruhiger angehen und feuere, anstatt selbst zu trainieren, die vielen Schwimmerinnen und Schwimmer an, die hier am „Arena Meeting“ teilnehmen. Nach ein paar Gesprächen mit den Sportlern stellt sich heraus, dass hier auch so ziemlich alle in der heißen Vorbereitungsphase auf ihre Deutschen Meisterschaften sind – von wegen fremde Gewässer…
Mittwoch, 4. Mai – 12 Uhr
An unserer topmodernen Universität verfügen wir über eine brandneue technische Erfindung namens W-LAN. Eigentlich. Denn an den wichtigsten Orten funktioniert es nicht: Auf der Campus-Wiese, in der Mensa und in den trostlosesten Hörsälen im Untergeschoss. Ich bekomme heute also nach einer langen Vorlesung in einem dunklen Raum ohne Fenster mal wieder einen Schwall an Nachrichten, da ich gezwungenermaßen für zwei Stunden offline war. Die Masse an Neuigkeiten kann man ja unmöglich auf einmal lesen. Ich sortiere deswegen zuerst nach wichtig und unwichtig. Metro Cash & Carry Pasta-Spezial? Unwichtig. Ihre 1&1 Ihre Mobilfunk-Rechnung? Unwichtig. Nominierung zu den Europameisterschaften in Amsterdam? Halt, seeehr wichtig! Jetzt ist es also offiziell: Ich bin bei der EM dabei! Wenn das mal keine Motivation für die 10 000m-DM am Wochenende ist!
Mittwoch, 4. Mai – 16.30 Uhr
An der Ampel gegenüber dem Justizgebäude kommen eigentlich selten Autos vorbei. Es genügt also meistens ein kurzer Seitenblick, ob irgendwo die Polizei in den Nähe ist und dann kann man ja gaaanz ganz vorsichtig und ganz ausnahmsweise mal drüberfahren.
Heute ist die Ampel aber ausnahmsweise mal Grün. Und trotzdem bremse ich mein Fahrrad abrupt ab. Denn wer spaziert da ganz zufällig vorbei? Niemand geringeres als der Präsident des DLV, Clemens Prokop persönlich. Wir unterhalten uns kurz, obwohl ich ja eigentlich schon fast ein bisschen spät dran bin. Der Präsident lässt es sich dennoch nicht nehmen, mir viel Glück für das Rennen in Celle zu wünschen. Jetzt muss ich aber auch wirklich los zur letzten Trainingseinheit auf der Bahn an. Wenn diese verflixte Ampel dann endlich wieder grün wird!
Mittwoch, 4. Mai – 23.45 Uhr
Ist noch Mittwoch? Oder schon Donnerstag? Es ist auf jeden Fall ziemlich dunkel hier draußen und in dem Haus, vor dem ich mit meinem Freund warte, leider auch. Ist halt eine Zahnarztpraxis und die haben nachts meistens geschlossen.
Für mich gibt es heute aber eine Ausnahme, es ist nämlich ein Notfall: Schon seit dem Training habe ich ununterbrochen Zahnschmerzen. Und es wird immer schlimmer. Ich bekomme nämlich momentan alle meine vier Weisheitszähne und das tut verdammt weh. Nachdem ich später auf der Geburtstagsfeier schon kaum mehr gute Miene zum bösen Spiel machen konnte, hat mich mein Freund kurzerhand ins Auto gesteckt und seinen Kumpel zu Hilfe gerufen. Der ist Zahnarzt und hat zum Glück nicht lange gezögert und uns direkt in seine Praxis bestellt. Als er nach ein paar Minuten eintrifft, geht es auch schon los: Mein Freund wird zur Zahnarzthelferin, während ich auf dem Patientenstuhl Platz nehme. „Der Klassiker“, ist die erste Feststellung des Fachmanns, „alles entzündet“. Er würde mir am allerliebsten gleich alle vier Zähne auf einmal ziehen, ich protestiere aber natürlich vehement: Am Samstag ist die DM, da darf ich nicht ausfallen! Also werden alle Maßnahmen ergriffen, damit die Entzündung zumindest nicht noch schlimmer wird. Ausgerüstet mit allen möglichen Gels und Desinfektionsspülungen verlassen mein Freund und ich die Praxis. Ich fühle mich noch immer hundeelend. Zur Ablenkung geht’s noch kurz zum Burger-Essen nebenan und dann aber schnell ins Bett.
Freitag, 6. Mai – 14.25 Uhr
Da stehen wir also. Irgendwo auf einem Parkplatz mit einem super-modernen Kleinbus, der total automatische Türen, eine 3-D-Rückfahrkamera, komfortabelste Ledersitze, enorme Beinfreiheit und ein Navi hat, das irgendwie mehr aussieht wie ein Tablet-PC.
Hilft leider alles nichts, wenn der Bus nicht mehr weiterfahren will. Dabei haben wir doch nur kurz Pipi-Pause gemacht und noch mindestens vier Stunden Autofahrt nach Celle vor uns. Irgendwann klebt die ganze Mannschaft ungeduldig am Fahrersitz und probiert an verschiedenen Schaltern, Knöpfen und Hebeln herum, damit wir das Automatik-Getriebe irgendwie aus dem Parkmodus befördern können. Wir sind schon regelrecht am Verzweifeln, als der Anruf beim Autovermieter schließlich die Rettung bringt. Wir sind eben Läufer und keine Auto-Experten.
Aber jetzt kann es ja endlich weitergehen. Ich muss gestehen, dass ich kein Fan von langen Autofahrten bin, noch weniger gerne stecke ich allerdings irgendwo im Nirgendwo fest.
Freitag, 6. Mai – 19.10 Uhr
Nach der anstrengenden Fahrt, gibt es im Hotel zur Aufmunterung sogar ein kleines Willkommens-Geschenk für mich: Gerade noch rechtzeitig ist dort ein wichtiges Accessoire für das morgige Rennen mit der Post angekommen. Glücklich nehme ich das Paket vom Hotel-Portier entgegen. So wie ich grinse, denkt er wahrscheinlich ich bin eine aus der Zalando-Werbung.
Ich schreie zwar vor Glück, allerdings stecken in meinem Päckchen keine Stilettos, Ballerinas oder Stiefeletten, sondern weiß-neongelbe Flats. Die Schuhe passen wie angegossen und sind federleicht, perfekt für Spikes-Verweigerinnen wie mich. Ausprobieren werde ich die Schuhe trotzdem erst morgen Früh bei meinem kleinen Renn-Auftakt, heute bin ich einfach schon zu müde.
Nach über 600 Kilometer Autofahrt wirken aber auch schon ein paar hundert Meter Spazieren wahre Wunder: Die Beine werden wieder ein bisschen lockerer und auf dem Weg in die kleine Altstadt von Celle macht sich dann allmählich der Abendessens-Hunger bemerkbar. Es wird also höchste Zeit, nach einem geeigneten Lokal zu suchen, um sich für die morgige Herausforderung zu stärken. Und wir werden glücklicherweise schnell fündig.
Die ganze Mannschaft bestellt sich Pizza (unter den kritischen Blicken des nudelessenden Seniorenlauftreffs am Nebentisch, das natürlich viel besser darüber informiert ist, wie die richtige vorwettkämpfliche Nahrung aussieht). Unsere Pizzen sind trotzdem keinesfalls eine schlechte Wahl. Der einzige, der sich am Ende beschwert, ist mein Weisheitszahn. Wehe, das wird nicht besser bis morgen!
Samstag, 7. Mai – 17.00 Uhr
Ein Tag Anfang Mai könnte wohl nicht schöner sein: Blauer Himmel, Sonnenschein und kein Wölkchen weit und breit. Die Erklärung dafür ist simpel: Bei so viel Wind wird so eine federleichte Wolke ja auch im Nu weggeweht. Und das macht die Sache schon wieder so verzwickt: Denn so ein Rennen über 10 Kilometer kann sich ganz schön ziehen, bei so starken Böen.
Davon darf man sich natürlich nicht einschüchtern lassen, immerhin sind die Bedingungen ja für alle gleich. Und trotzdem: Ein bisschen mulmig wird einem da schon vor den anstehenden 25 Stadionrunden.
Gut, dass ich vor dem Rennen noch etwas gefunden habe, das mich aufmuntert: Einen Bäcker mit Franzbrötchen! Ohne Witz, sowas gibt es bei uns ins Regensburg irgendwie total selten. Celle ist mir jedenfalls spätestens jetzt sehr sympathisch. Jetzt noch ein kleines Nachmittagsschläfchen und dann heißt es schon: Auf ins Stadion!
Motiviert bis in die Zehenspitzen und bepackt mit meinen Sporttaschen, spaziere ich die Treppen hinunter, als ich einen Anruf bekomme: Die Startzeiten wurden verschoben. Alle Rennen finden eine Stunde später statt. Am Treffpunkt zur Abfahrt angekommen, will ich die brandheißen Neuigkeiten gleich an alle weitergeben. Blöderweise denken irgendwie alle, ich mache Witze.
Ein Bestätigungsanruf bringt allerdings Klarheit und eine weitere Stunde nervöses abwarten, bis es dann endlich Richtung Rennbahn geht.
Auf der Fahrt grüble ich noch, ob der Kaffee in der Hotelbar wirklich eine gute Entscheidung war, ob ich auch ja nichts vergessen habe, ob der Zahn wohl halten wird… Im Stadion angekommen, ist dann aber alles ganz schnell vergessen. Jetzt heißt es Aufwärmen (was bei den heißen Temperaturen trotz der frühen Abendstunden fast schon unnötig ist) und dann ist es schon fast so weit.
Samstag, 7.Mai – 18.50 Uhr
Der Startschuss fällt. Etwa zwanzig Läuferinnen stürmen in die Kurve. Jetzt heißt es: Rennen auf Teufel komm raus!
Leider ist das heute eine ziemlich verflixte Angelegenheit. Ich komme schon recht früh ins Kämpfen, der Wind und die Sonne tun ihr Übriges. Das Einzige, das einen da zumindest ein bisschen beruhigt ist, dass die anderen ja mit den gleichen Bedingungen zurechtkommen müssen. Das schüttelt heute vermutlich niemand locker aus dem Ärmel.
Die meiste Zeit muss ich mich alleine durchschlagen, das Feld ist ziemlich verstreut auf die 400m-Stadionrunde. Aber irgendwann läutet sie dann doch, die erlösende Glocke: Letzte Runde! Gleich geschafft!
Auf der Ziellinie dann der erleichterte Jubel: Sieg in der U23 und Platz 3 bei den Frauen! Meine Hoffnung, dass sich der Lauf genau so locker anfühlt wie auf den 3000m in der Vorwoche hat sich zwar nicht erfüllt. Trotzdem ist jetzt alles gut.
… Ich bin mir sicher, dass jeder, der in Celle an den Start gegangen ist, eine ähnlich lange Geschichte aus seiner Wettkampf-Vorwoche erzählen könnte. Es passieren einfach immer ein paar Dinge, mit denen man nicht rechnen kann. Aber das ist ja gerade das Schöne am Sport.
Womit man dagegen übrigens immer rechnen muss, ist die Dopingkontrolle im Anschluss und die damit verbundene Wartezeit: Die, die am frühesten im Ziel sind, dann meistens die, die am spätesten das Stadion verlassen. Der ganz normale DM-Wahnsinn eben – sonst wäre es ja langweilig, oder?