Meine Geschichte ist eigentlich keine besondere – sie ist eine von schätzungsweise 200.000 betroffenen Menschen in Deutschland; nämlich jenen, die unter Multipler Sklerose leiden… so wie ich.
Fußball… in der Leichtathletikszene nicht unbedingt ein gern gesehenes Thema. Ich muss aber trotzdem kurz das Ball-Gedribbel erwähnen, denn die heutige Geschichte fängt damit an.
Wir haben Sommer 2010. Es läuft die Partie zwischen Deutschland und Argentinien im Rahmen der Fußball-WM, die Deutschland letztlich mit einem 4:0 für sich entscheiden wird.
Julia B.: „Ich merkte während des Spiels, wie mein linkes Bein anfing, sich ‚komisch‘ anzufühlen. In etwa so, als wäre es eingeschlafen.“
Bereits am Morgen nach dem Laufen unter der kalten Dusche fühlte sich der linke Oberschenkel merkwürdig an. Dumpf, taub, irgendwie nicht „zum Körper dazugehörig“.
Das Gefühl erstreckte sich mit der Zeit hoch bis zum Bauch. Aber nur die linke Seite war betroffen.
„Nun bin ich nicht gerade diejenige, die bei jeder Kleinigkeit oder jedem Schmerz einen Arzt aufsucht, aber dieser Zustand bereitete mir dann doch Angst.“
Also suchte sie die Notfallambulanz in Pinneberg auf: „An einem Sonntag werden aber kaum Untersuchungen gemacht. Also sollte ich ein paar Tage dort bleiben, damit man mich auf den Kopf stellen und die Ursache des Problems finden konnte.“
Klang soweit vernünftig. Allerdings stand sie kurz vor ihrem Examen zur Diplom-Handelslehrerin und musste sich am nächsten Tag dafür persönlich anmelden. Ansonsten hätte sich das Studium um ein Semester verlängert.
Eigenverantwortlich entschied sie sich also, das Krankenhaus zu verlassen und kontaktierte direkt nach der Examensanmeldung am nächsten Morgen eine Neurologie in Hamburg. Es folgte ein MRT von Kopf und Wirbelsäule, eine Lumbalpunktion und sämtliche weitere Tests/Untersuchungen.
Monatelang musste sie auf den Befund warten, der letztlich am 01. November 2010 „die Krankheit mit den 1.000 Gesichtern“ diagnostizierte: Multiple Sklerose. Eine Autoimmunerkrankung, bei der Entzündungs- und Abwehrzellen des Körpers fälschlicherweise körpereigene Strukturen angreifen. Dies führt zu einem Abbau der Hüllschicht von Nervenfasern und zu einer Schädigung der Nervenfaser selbst.
Die Gefühle und Gedanken überschlugen sich: „Kann ich vielleicht irgendwann nicht mehr gehen, nicht mehr laufen, sprich: Sitze ich vielleicht irgendwann im Rollstuhl? Ich hatte einfach nur Angst.“
Zu der Zeit konnte sie jedoch noch ganz normal Sport treiben. Niemand sah ihr die Krankheit und die Tatsache an, dass sie sich alle zwei Tage spritzen musste, um den Krankheitsverlauf zumindest zu begünstigen, denn eine Heilung gibt es (bislang) nicht.
„Ich war immer sportlich aktiv. Ob in der Jugend mit Tennis, Aerobic, Turnen und seit dem 16. Lebensjahr dann das regelmäßige Laufen (Distanzen bis 20 km; Elmshorner Stadtlauf lief ich die 10 km mit 16 Jahren in 42 Minuten). Ein Leben ohne Sport und besonders ohne Laufen war für mich undenkbar.“
Doch Letzteres ging eines Tages nicht mehr…. Eine Spastik im linken Bein, die durch einen weiteren, nicht behandelten Schub bedingt war, sorgte dafür, dass sie nicht mehr als 200 Meter am Stück laufen konnte.
„Das Bein wurde dann einfach steif, holzig… es ging nicht mehr voran bzw. ich wäre bei weiteren Schritten hingefallen.“ Die Reize vom Gehirn konnten nicht mehr ins Bein weitergeleitet werden.
„Dass es mir zunehmend auch psychisch schlechter ging, brauche ich wohl kaum erwähnen…“Aber sie hatte nun die Wahl: Den Kopf in den Sand stecken oder nach dem Hinfallen wieder aufstehen und weitermachen.
„Ich suchte mir also eine Alternative, d.h. sportliche Betätigung, die auch mein linkes Bein mitmachte.“
Fest stand allerdings, dass sämtliche Bewegungen bzw. Sportarten, bei denen es um Koordination ging bzw. die Beine den Boden verlassen, nicht mehr in Frage kamen.
„Ein schrecklicher Gedanke! Was bleibt also noch? Da ich schon immer diejenige war, die alles rund um Ausdauersport liebte, kamen für mich der Crosstrainer und das Schwimmen in Frage.“
Aber das Laufen konnte es ihr nie ersetzen – die frische Luft, die Unkompliziertheit (einfach umziehen, Schuhe schnüren, raus und los). „Aber es blieb mir ja nichts anderes übrig… Irgendwie musste ich mich doch bewegen!“
Ende 2012 ereilte sie ein neuer, heftiger Schub. Wieder war die linke Seite betroffen, diesmal vor allem der Arm und die Hand. Benannte Gliedmaßen führten nicht die Bewegungen aus, die sie sollten: „Wenn ich mir z.B. die Haare waschen wollte, kam es vor, dass meine Hand nicht zum Kopf ging, sondern in die andere Richtung.“
Es folgte wieder eine Kortisonstoßtherapie mit den üblichen Nebenwirkungen, wie nicht zuletzt starker Haarausfall.
„Aufgrund der Schwere der Schübe, die ich nun innerhalb der vergangenen zwei Jahre hatte, riet man mir im November 2012 dazu, auf ein anderes Medikament umzusteigen, das zwar vielversprechend klang, jedoch (natürlich) nicht ohne mögliche heftige Nebenwirkungen war.“
Dass dies jedoch die beste und richtige Entscheidung war, zeigte sich ihr im Laufe der Zeit.
Julia suchte immer häufiger die Schwimmhalle auf. Und obwohl es ihr körperlich nach und nach besser ging, scheiterten noch sämtliche Versuche, wieder zu laufen und endeten mit Tränen in den Augen.
„Nur schwer erträglich war der Anblick der Läufer an der Alster. Muss sich manch einer überwinden, seinen Hintern hochzubekommen, hätte ich sonst was darum gegeben, um endlich wieder laufen zu können.“
Aber sie gab nicht auf und versuchte es weiter: „Irgendwie muss das doch funktionieren, weil ich es einfach will!“
Und so kam der Tag der Deutschen Einheit 2014. Ein gesetzlicher Feiertag, an dem „ihr“ Schwimmbad nicht geöffnet hatte. Es war herrlichstes Herbstwetter, so dass auch der Crosstrainer keinen Reiz auslöste, sich auf ihm auszutoben. Also schnürte Julia abermals ihre Laufschuhe und verließ die Wohnung mit den Worten: „Ich bin ja eh gleich wieder da…“
Nach etwa 200 Metern merkte sie, wie sich wieder alles „zuschnürte.“ Aber sie lief weite: „Ich wollte einfach laufen. Und auf einmal war dieses Gefühl fast weg. Und ich lief. Ich lief durch meinen Park, meine alte Laufstrecke durch Eilbek. Und ich lief unter Tränen. Was die anderen Spaziergänger, die mir entgegenkamen, dachten, war mir völlig egal, denn ich lief!“
Eine ganze Stunde lang lief sie wie in Trance und konnte ihr Glück nicht glauben. Die Tränen rollten nur so über das Gesicht.
„Die Schmerzen in den Beinen, die ich noch wochenlang nach diesem Lauf hatte, weil die Wadenmuskulatur völlig verkürzt war, habe ich damals liebend gerne in Kauf genommen. Sie waren es mehr als wert! Ich musste dann natürlich langsam wieder einsteigen (wer mich kennt, weiß, wie schwer mir das fällt), aber das Gefühl, etwas wiederzubekommen, was schon verloren schien, war unbeschreiblich. Tanzen, Inline Skaten, Ballsportarten – auch das war wieder möglich.“
So wurde aus dem gesetzlichen ihr ganz persönlicher Feiertag!
Innerhalb der kommenden Monate füllte sich der Schuhschrank stets mit neuen Laufschuhen und mittlerweile lief sie fast täglich. Anfänglich ca. 8 km in einer Pace von 5:10min/km.
Sowohl die Distanzen als auch die Geschwindigkeit steigerten bzw. besserten sich. Bald knackte sie die 20km und lief im November 2015 erstmalig eine Strecke von 30 km in einer Pace von 4:47min/km.
„Für den Marathon im April 2016 hatte ich mich voller Euphorie bereits am ersten Anmeldetag angemeldet. Wenn schon, denn schon, dachte ich mir. Mit einem Halbmarathon zu starten, kam mir nicht in den Sinn – keine halben Sachen halt ;)!“
Ein Ermüdungsbruch am unteren Schambeinast im Dezember 2015 sollte dann aber wohl das Signal dafür sein, dass Julia ihre Euphorie zu mutwillig auslebte und die Umfänge zu schnell steigerte bzw. ihrem Körper zu wenig Regenerationszeit gab.
„Die dreimonatige Zwangspause bedingt durch den Ermüdungsbruch war eine harte Zeit, aber ich wusste, dass ich dann wieder laufen kann, wohingegen ich das vor 2015 nur hoffen konnte.“
Im März 2016 war der Ermüdungsbruch einigermaßen auskuriert und sie drehte wieder ihre Runden. Den Marathon im April konnte sie dann natürlich noch nicht laufen, „aber meinen Platz wollte ich nicht vergeben bzw. verkaufen; es war meiner, auch wenn ich selbst nicht starten konnte.“
2016 brachte zwar nicht den ersten Marathon, dafür aber einen persönlichen Gewinn: ihre neue Laufgruppe, der ASICS Running Club, der immer dienstags um 18.30 Uhr zu einer gemeinsamen Runde aufbricht.
„Innerhalb kürzester Zeit hatte ich nicht nur tolle Laufpartner, sondern auch liebenswerte Menschen kennen gelernt.“
Ob nun der ASICS Running Club am Dienstag, die Urban Runners montags oder jetzt die langen Läufe an den Wochenenden in großer Runde mit bis zu 50 Gleichgesinnten – „Es macht immer wieder Spaß und ich genieße die Läufe. Ich bin so unendlich dankbar!“
Seit mittlerweile über vier Jahren zeigt sich die MS nicht. Sie ist für Julia quasi nur noch etwas, was auf dem Papier steht. „Sag niemals nie und glaube vor allem immer an das scheinbar Unmögliche, was bei mir die Rückgewinnung des Laufens ist.“