„Du kannst reinkommen, wenn du willst“, bietet mir Richard an. Wie gnädig. Wir stehen ja erst fünf Minuten im strömenden Regen herum. „Aber nicht wundern, im Wohnmobil riecht es ein bisschen streng“, fügt er hinzu, bevor ich mich ins Innere des Fahrzeugs und damit endlich ins Trockene retten kann.
Wie die Luft da drinnen sein soll, ist mir bei dem Wetter wirklich vollkommen egal. Außerdem hatte ich ehrlich gesagt keinen Rosenduft erwartet, wenn drei Männer für sechzehn Tage auf engstem Raum zusammenleben. Dafür sieht es hier sowieso noch ziemlich ordentlich aus – und ich bekomme sofort ein schlechtes Gewissen, weil ich mit meinen durchgeweichten Klamotten einen großen Wasserfleck in die Sitzgarnitur mache. „Das ist normal, wenn schlechtes Wetter ist“, winkt Florian ab, einer von Richards Mitbewohnern auf Zeit, „aber deine Stadt macht ihrem Namen heute trotzdem alle Ehre. Hoffentlich wird das tagsüber ein bisschen besser!“
Meine Stadt. Regensburg. Ach ja. „Die letzten eineinhalb Wochen hatten wir aber strahlenden Sonnenschein, ganz ehrlich!“, versuche ich, meine schöne Heimat zu verteidigen. Dafür, dass es ausgerechnet heute Herbst werden musste, kann ich nun wirklich nichts! Und außerdem ärgert das ja nicht nur Richard und mich, sondern auch die unzähligen Regensburger Landkreisläufer, die heute ab neun Uhr mit ihren Staffeln an den Start gehen wollen. Sie müssen Distanzen zwischen vier und acht Kilometern bewältigen – darüber können Richard und Florian allerdings nur müde lächeln.
Sie sind nämlich Teil des Teams von Lauf-KulTour, der längsten Laufstaffel Deutschlands: Innerhalb von 16 Tagen bewältigen 12 Läufer eine Strecke von 4000 Kilometern rund um die Bundesrepublik herum. Begleitet werden sie jeweils von einem der insgesamt 6 Unterstützungs-Radler, die ihnen mithilfe von GPS die Strecke weisen, für ein bisschen Unterhaltung sorgen und nicht zuletzt den Weg beleuchten, wenn es dunkel ist. Denn gelaufen wird rund um die Uhr, 24 Stunden am Tag, jeder zweimal und jeweils etwa zehn Kilometer.
„Manchmal wird es aber auch länger“, erklärt Richard. Im letzten Jahr ist er selbst mitgelaufen, heuer macht er als Radbegleiter mit. „Während dem Lauf kann ja so vieles passieren: Mal müssen wir die Strecke ein bisschen ändern, weil wir über irgendeine Brücke nicht drüber kommen, oder weil ein Straßenstück gesperrt ist. Hin und wieder verfehlen sich auch Läufer und Wohnmobil am Wechselpunkt. Dann muss man eben noch ein Stück weiterlaufen – und das können mitunter schon ein paar zusätzliche Kilometer werden, wenn in der nächsten Zeit keine geeignete Stelle zum Umsteigen ist.“ Denn das ist tatsächlich gar nicht so einfach: Da, wo man zu Fuß und mit dem Rad gut hinkommt, ist es für ein Wohnmobil oft gar nicht so leicht. Und die mehr oder weniger geräumigen Wägen, mit denen die Läufer in 4er-Gruppen bzw. die Radfahrer in 3er-Gruppen unterwegs sind, haben nun mal keinen Allrad-Antrieb und sind auch nicht so klein und wendig wie ein Smart. Mal schnell irgendwo parken? Fehlanzeige! Aber dazu später mehr…
Mittlerweile ist es nämlich 8.30 Uhr und vom Inneren des Wagens aus macht es zumindest den Anschein, als würde der Regen draußen langsam weniger. Gleichzeitig kommt uns das blinkende Läufersymbol auf der interaktiven Karte (zu finden auf www.lauf-kultour.de) immer näher. Florian und Richard packen ein paar Sachen zusammen und zu dritt machen wir uns auf in Richtung Jakobstor. Hier wollen wir Falko, der momentan als Staffel-Läufer unterwegs ist, abpassen. Unser Timing hätte nicht besser sein können: Kaum sind wir angekommen, bemerken wir den jungen Mann im blauen Shirt, der in Begleitung eines Radfahrers am Rand des Stadtparks auftaucht. Richard und Florian machen Fotos – ich setze mich in Bewegung.
„Hi, ich bin Franzi, ich begleite euch ein bisschen“, stelle ich mich den beiden vor, die noch gar nichts von ihrem Glück geahnt haben. Falko grinst. Anscheinend kommt ihm ein bisschen Abwechslung gerade recht. Sein Begleiter Philipp ist währenddessen mehr mit dem GPS-Gerät beschäftigt, als mit mir. Kein Wunder, bei den vielen kleinen Gassen der Regensburger Altstadt, durch die ihre Route nun führt, kann man schnell mal den Überblick verlieren. Aber dafür bin ja jetzt ich da. Also zieht Philipp ganz nebenbei noch eine Kamera aus seinem Rucksack und macht ebenfalls noch ein paar Fotos.
Eigentlich dachte ich, er hat vor allem Essen und Trinken als Verpflegung für seinen Läufer im Gepäck. Stattdessen: Technische Geräte bis obenhin. Mit Verstärkung muss Falko wohl noch bis zum Etappenende abwarten. Aber die große Ausstattung im Rucksack hat durchaus ihre Berechtigung: Bei dieser Staffel der besonderen Art muss man für alles gerüstet sein, egal ob Wind, Wetter, Tag oder Nacht, Hitze oder Kälte. Stehenbleiben gibt’s nämlich nicht.
Dafür sind die Läufer aber sowieso viel zu gut trainiert. Im Rahmen eines Lauftreffs und mithilfe eines extra für sie ausgearbeiteten Trainingsplans haben sie sich auf die große Herausforderung vorbereitet: Über 300 Kilometer in 16 Tagen – das entspricht einem Wochenpensum von 140 Kilometern. Und das als Freizeitsportler, neben Beruf und Studium! Falko studiert beispielsweise Maschinenbau an der TU Chemnitz. „Ich bin aber so gut wie fertig, demnächst beginnt mein praktisches Jahr“, erklärt er. Nebenbei noch dreimal die Woche Sport, ein paar Marathonläufe und jetzt die Lauf-KulTour… kann man mal machen.
Ich bin trotzdem mehr als nur überrascht, was für ein hartes Programm das Team in der kurzen Zeit absolviert. Denn neben der körperlichen Anstrengung gehört ja auch viel Organisationstalent dazu – und nicht zuletzt auch eine Portion Spontanität und Flexibilität: „Letzte Nacht musste ich sogar zwanzig Kilometer am Stück laufen, weil wir das Ablöse-Team an einem Wechselpunkt verpasst haben“, berichtet Falko, „und dann gab es eben ziemlich lange keine Möglichkeit mehr, das Wohnmobil an der Strecke zu parken.“ Er sagt das so, als sei es das Normalste auf der Welt. Kann passieren. Die Lauf-KulTour ist eben unberechenbar.
„In der Nacht ist es aber sowieso fast angenehmer zu laufen“, hat mir schon Richard erklärt, „vor allem in den Städten ist dann nicht so viel los. Es ist weniger Verkehr, an den meisten Stellen sind Straßenlaternen und man kann einfach schön vor sich hin laufen.“
Wenn es trotzdem mal vorkommt, dass sich ein Läufer nicht so gut fühlt, gibt es natürlich genauso die Möglichkeit, eine kürzere Etappe einzulegen. Ein anderer Läufer kann die ausgelassenen Kilometer schließlich jederzeit übernehmen. Letztendlich ist es nur wichtig, dass der 12-Stunden-Rhythmus von Lauf- und Ruhephase eingehalten wird.
Das klingt zunächst vielleicht ziemlich absurd. Wie kann man so etwas denn schaffen? Mit der richtigen Vorbereitung wohl sehr gut. Immerhin ist das Projekt Deutschlandumrundung schon so einige Male geglückt.
Aber wer kommt bitte auf so eine Idee? Nachdem Richard mir diese Frage beantwortet hat, die mir eigentlich schon von Anfang an auf den Lippen brennt, bin ich direkt ein bisschen enttäuscht von mir. Da hätte ich schon selber draufkommen können:
Die Lauf-KulTour geht auf eine der unzähligen Ideen von Dirk Lange zurück. Dass es keine Schnapsidee, sondern ein ziemlich guter Einfall gewesen zu sein scheint, zeigt nicht nur die zehnjährige Erfolgsgeschichte, sondern auch der gute Zweck des Projekts:
Mit dem Sport soll auch soziales Engagement verbunden werden. Während der Tour werden selbstverständlich Spenden gesammelt, „unser Hauptaugenmerk liegt allerdings woanders“, erklärt Richard: „Seit drei Jahren unterstützen wir nun schon die Aktion „Benni&Co.“, die sich wiederum um Kinder kümmert, die an Duchenne-Muskeldystrophie erkrankt sind. Unser Ziel ist es nicht, möglichst viel Geld einzutreiben, sondern vor allem darauf aufmerksam machen, dass es diese unheilbare Krankheit gibt und dass man etwas tun kann, um die Lebensqualität der Patienten und ganz besonders die der betroffenen Kinder, zu verbessern.“
Laufen für diejenigen, die selbst nicht mehr laufen können. Ein schönes Motto für eine Aktion, die den Beteiligten eine Herzensangelegenheit ist. Denn so viel steht fest: Alle Läufer starten unentgeltlich und machen mit, weil es Freude macht zu laufen und dabei gleichzeitig etwas Gutes zu tun.
Vielleicht wirkt Falko deshalb noch überhaupt nicht angestrengt. Wir unterhalten uns gut und ich kann ihm zumindest ein bisschen was über die Gegend erzählen, die er gerade durchläuft. Denn die ist, jetzt mal abgesehen vom wolkenverhangenen Himmel, durchaus sehenswert. Da ist von der historischen Altstadt über das Eisstadion bis hin zur Baseball-Arena immerhin alles dabei. Schließlich führt uns der Weg aus der Stadt hinaus und auf dem Radweg Richtung Passau entlang.
Nach einiger Zeit muss ich hier allerdings den Rückweg antreten. Es ist mittlerweile nach neun Uhr und ich muss bald wieder zurück in der Stadt sein. Ich verabschiede mich also von Falko und Philipp und schicke sie weiter auf ihrem Weg die Donau entlang. Letzten Endes stellt sich heraus, dass ich wohl keine zweihundert Meter vor dem Wechsel auf den nächsten Läufer umgedreht habe. Zumindest hat mich das Wohnmobil noch in meiner roten Jacke gesehen. Schade, aber da kann man nix machen. Die Lauf-KulTour ist eben unberechenbar.
… Falls ihr jetzt übrigens Lust bekommen haben solltet, die Teilnehmer der 10. Lauf-KulTour ebenfalls ein Stückchen auf ihrem Weg zu begleiten: Schaut doch mal auf der Homepage www.lauf-kultour.de vorbei – vielleicht kommt das Team ja auch noch in eurer Stadt vorbei!
Hier ein paar der Ziele für diese Woche:
22. September: Mainz, Koblenz, Bonn, Köln
23. September: Leverkusen, Düsseldorf, Duisburg, Dortmund, Münster
24. September: Lingen, Papenburg, Emden
25. September: Wilhelshaven, Bremen