Eliud Kipchoge – er ist so herrlich normal, obwohl man den Marathon-Weltrekordhalter, fünffachen Berlin-Marathonsieger und zweifachen Olympiasieger wohl getrost als lebende Legende bezeichnen kann. Ihn in einem Atemzug mit den großen Sportlern dieser Welt, wie etwa Usain Bolt, Muhammed Ali oder Michael Schumacher zu nennen, ist keinesfalls übertrieben.
Dienstag, 26. September, 12 Uhr bei Abbott in Wiesbaden. „Er kommt“, raunt es durch die große Halle. Und tatsächlich: Von jetzt auf gleich steht er da, Eliud Kipchoge, der Mann, der so unfassbar schnell läuft, dass bestenfalls ein Gepard ihm Paroli bieten kann. Nur 1,67 Meter misst er und ist doch ein Großer, ja der Größte. Oder wie es neuerdings gerne heißt: the GOAT, the greatest of all time. „Er möchte gerne wissen, mit wem er es zu tun hat“, sagt Ursula Hellstern, Director Public Affairs DACH bei Abbott, und bittet die anwesenden Journalisten, sich vorzustellen. Kipchoge hört zu, nickt, blickt einen mit seinen dunklen Augen intensiv an. Uns drei Journalisten ist klar: So eine Chance werden wir nicht mehr bekommen. In entspannter „Wohnzimmeratmosphäre“ sitzt uns der Mann gegenüber, der ein Vorbild für Millionen von Menschen ist. Warum er das ist, das versuchen wir, zu ergründen.
Dass das Gespräch ausgerechnet bei Abbott stattfindet, hat einen Grund. Beim US-amerikanischen Pharmakonzern ist man ziemlich laufverrückt. Seit 2015 sind die Abbott Laboratories offizieller Namenssponsor der World Marathon Majors, zu denen die Läufe in Tokio, Boston, London, Berlin, Chicago und New York zählen.
In den kommenden 40 Minuten wird Kipchoge von uns Journalisten mit Fragen bombardiert – Fragen, ganz unterschiedlicher Couleur. Kipchoge zeigt sich ungewohnt offen, plaudert aus dem Nähkästchen. Allüren, die sucht man bei ihm vergeblich. Nein, wie ein Superstar wirkt er tatsächlich nicht, vielleicht eher wie der Nachbar von nebenan, bodenständig, nahbar und doch hat er eine ganz besondere Aura. Eine, die seine Zuhörer in den Bann ziehen. Kipchoge, der Name ist längst zu einer Marke geworden, er inspiriert wie kein anderer Läufer auf diesem Erdball. „Wenn ich irgendwo auf der Welt jemanden inspirieren kann, ist das mein Glück“, sagt er selbst. Nach dem Pressegespräch sind die Abbott-Mitarbeiter eingeladen, Kipchoge kennenzulernen. Das Auditorium ist nahezu komplett gefüllt. Gespannt hören sie ihm zu, hängen an seinen Lippen, saugen jedes Wort auf und werden später allesamt den Raum mit einem Lächeln verlassen. Der Kenianer ist geduldig, erfüllt jeden Autogrammwunsch, unterschreibt unzählige Medaillen, Trikots und Laufschuhe – nicht nur die mit dem berühmten Swoosh, seinem Sponsor.
Wer glaubt, Kipchoge hätte nach seinem fünften Sieg in Berlin (2:02:42 Stunden) Zeit gehabt, ausgiebig zu feiern, der sieht sich getäuscht. Ein Sponsorentermin jagt den nächsten. Laufen ist eben sein Job. Aber auch eine Leidenschaft und das betont er gebetsmühlenartig. Und man nimmt ihm das ab. Wie sonst ist zu erklären, dass sich der Kenianer schon so lange an der Weltspitze hält und das Marathon-Geschehen bestimmt?
Kipchoge betont im Gespräch: „Der Marathon und meine Erfolge, sie sind eine Teamleistung. Ohne das Team, wie Trainingspartner, Coaches, Management, Ernährungsberater, Ärzte, technischer Support wäre so etwas nicht möglich.“ Konstanz ist dabei das Schlüsselwort, denn Kipchoge wird seit 2001 von Patrick Sang, einst selbst Weltklasseläufer über 3000 Meter Hindernis, trainiert.
Marathon entwickle sich mehr und mehr zum Teamsport – ähnlich wie im Radsport oder in der Formel 1 – hat Kipchoge schon vor einigen Jahren gesagt. Ohne Pacemaker wird bereits heute kein Rennen mehr auf diesem Niveau gewonnen.
Kipchoge ist wie kaum ein anderer strukturiert und reflektiert, einer der weiß, dass neben hartem Training die Regeneration eine große Rolle spielen. Ein intelligenter Sportler, einer, der über den Tellerrand hinausblickt, Paul Coelho liest und gerne diskutiert. Über Gott und die Welt.
Kipchoge kasteit sich, ordnet dem Laufen alles unter. Auch die Familie – der 38-Jährige ist verheiratet und Vater dreier Kinder – muss hintenanstehen. „Marathontraining ist nicht einfach. Es ist hart, lange und erfordert absolute Disziplin“, unterstreicht der Kenianer. Überhaupt fällt das Wort Disziplin häufig, ist vielleicht sein Erfolgsgeheimnis, wobei er ganz klar sagt: „Es gibt kein Geheimnis. Marathon ist kein Mysterium. Trainiere und du kannst alles erreichen.“ Nicht ohne Grund ist sein Motto und auch der Titel seiner Autobiographie: „No human is limited.“ Das hat er 2019 bei dem Projekt sub 2 Stunden bewiesen, als er am 12. Oktober der erste Mensch war, der in Wien die magische Marke unterboten hat. Atemberaubende 1:59:40,2 Stunden lief er seinerzeit. Grenzen überschreiten, das, so ist sich Kipchoge sicher, könne jeder. Ob Zwei-Stunden-Marathoni oder Fünf-Stunden-Läufer. „Du kannst alles erreichen“, das betont er immer und immer wieder.
Ist es vielleicht die Einfachheit, warum Kipchoge so erfolgreich ist? Während hierzulande Leistungs- und Breitensportler Millionen von Euro für Supplements, also Nahrungsergänzungsmittel, ausgeben, verzichtet der 38-Jährige nach eigener Aussage komplett darauf. Natural food und zwar alles, was das Land so hergibt, isst er. Unbedingt regional muss es sein. Und fährt offensichtlich gut damit. „Dadurch ist alles abgedeckt. Kohlenhydrate, Fette, Proteine“, sagt er. Die Ernährungsberater im Trainingscamp, wissen genau, was ihren Schützlingen guttut. „Zehn Sportler, zehn unterschiedliche Diäten. Nicht jeder verträgt alles, daher wird das entsprechend geplant“, verrät er. Na klar, darf das Nationalgericht Ugali auf seinem Speiseplan nicht fehlen. Am liebsten, so berichtet er, esse er vor einem Wettkampf Haferflocken mit Bananen.
Trotz der Millionen, die er bereits verdient hat, lebt Kipchoge bescheiden. Auch wenn er viel in der Welt herumgekommen ist, er kehrt immer wieder zurück zu seinen Wurzeln. Und er unterstützt die jungen Menschen in seinem Land, die einmal so werden möchten wie er.
Kipchoge lebt in der Regel unter der Woche im Camp der Global Sports Communication in Kaptagat, Kenia, zusammen mit seinen Teamkollegen. Sie starten für das NN Running Team, das seinen Sitz in den Niederlanden hat und 2017 von Jos Hermens gegründet wurde. Umgeben von Farmen, allerlei Getier, wie etwa Kühe und Schafe, findet der Kenianer Ruhe, um nach Wochenumfängen von 200 Kilometern zu regenerieren. An den Wochenenden fahren der 38-Jährige und die anderen Athleten nach Hause, um Zeit mit ihren Familien zu verbringen. Montags kehren sie ins Lager zurück, um das Training fortzusetzen. Intensivere Trainingsphasen werden in Eldoret durchgeführt, wo die Schotterbahn an der dortigen Moi University genutzt werden kann. Übrigens: Der Superstar muss ebenfalls im Camp mit anpacken: Tisch aufräumen, Boden kehren und putzen. Eben wie jeder andere auch.
Einfachheit hin oder her – um die Spitzenleistungen erreichen zu können, setzt das NN Running Team selbstverständlich auf Innovationen, wie etwa den Libre Sense Glukose Biosensor, der auf der kontinuierlichen Glukosemess-Technologie FreeStyle Libre von Abbott basiert, die ursprünglich für Menschen mit Diabetes entwickelt wurde. Durch das Überwachen und Verstehen der Glukosewerte kann der Sportler für eine ausreichende Aufnahme von Nahrungsmitteln sorgen, um Ermüdungserscheinungen infolge von Glukosemangel vorzubeugen. Im Training und im Wettkampf können so die Energiespeicher rechtzeitig aufgefüllt und Höchstleistungen aufrechterhalten werden. Für Kipchoge sei der Sensor ein absoluter „Gamechanger“ gewesen, erklärt er.
Schon kleinste Anpassungen in der Ernährung hätten ihm geholfen, die Laufleistung zu verbessern, ist er überzeugt. Doch nicht nur der Weltrekordhalter setzt auf das Gadget, auch immer mehr andere Sportler sind mit dem kleinen Knopf im Oberarm unterwegs. Etwa bei der Tour de France. Übrigens ist Kipchoge ein bekennender Radsportfan, schaut – wenn es die Zeit erlaubt – sämtliche große Radrennen der Welt, wie die Vuelta oder eben die Frankreich-Rundfahrt. Fußball läuft ebenso häufig bei Kipchoge im Fernsehen. Am liebsten verfolgt er übrigens die Spiele von Tottenham, aktuell Vierte in der Premier League. „Ich mag ihr Spielsystem“, sagt der Kenianer. Ob er denn selbst hin und wieder gegen das runde Leder tritt? Er verneint lachend. Da sei die Unfallgefahr zu hoch. „Ich bleibe dann doch lieber beim Laufen.“
Paris 2024 – das ist Kipchoges großes Ziel. Eine dritte Olympische Goldmedaille – das wär`s. Wer Kipchoge kennt, weiß, dass er sich akribisch wie kaum ein anderer darauf vorbereiten wird. Wie die Planungen bis dahin aussehen, da will sich der Kenianer nicht in die Karten schauen lassen. „Jetzt ist erst einmal Erholung angesagt“, sagt er lächelnd. 2003 übrigens holte Kipchoge im Stade de France den Weltmeistertitel. Damals über 5000 Meter auf der Bahn. Wenn das mal kein gutes Omen ist…
Saskia Helfenfinger-Jeck
Bildmaterial: Abbot