Vielleicht habt ihr ja schon den Text von Philipp Reinhardt „Das letzte ‚erste Mal'“ zu den Nominierungen des DLV für die Cross-Europameisterschaften gelesen. Da ich mich momentan in der exakt gegenteiligen Situation befinde, möchte ich ebenfalls gerne meine Gedanken dazu mit euch teilen…
Zunächst muss ich gestehen: Als ich meinen Namen in der Nominierten-Liste für die Cross-Europameisterschaften entdeckt habe, war ich nicht überrascht.
Was vielleicht im ersten Moment verdammt arrogant klingt, lässt sich aber ganz plausibel erklären.
Ich wurde nämlich schon zu Beginn der Woche darüber informiert, dass man mich für eine Teilnahme bei den europaweiten Titelkämpfen in Chia vorschlagen wolle.
Darüber war ich zu diesem Zeitpunkt allerdings mehr als überrascht, um nicht zu sagen sprachlos (was selten vorkommt) und: Ich wusste tatsächlich nicht so recht, wie ich mich jetzt fühlen sollte. Enttäuscht war ich natürlich nicht. Aber meine Freude hatte einen faden Beigeschmack. Erst recht nachdem ich gestern Philipps Worte lesen musste.
Es gibt sie ja, diese sogenannten Nominierungsrichtlinien des DLV. Ein schöner Katalog an Bedingungen, die für einen Start bei der Cross-EM erfüllt werden sollen. Meistens werden sie nicht besonders frühzeitig veröffentlicht und allzu präzise ist das Ganze auch nicht formuliert. Es gibt überall noch Möglichkeiten, die Sache so oder so auszulegen, je nach Einzelfall zu urteilen. Vielleicht aber auch zu Recht, denn: Cross – das wird und kann niemals eine absolut objektive Sache sein.
Aber egal wie vor- oder unvoreingenommen jemand auf diese Richtlinien blickt. Für einen Einzelstart erfülle ich die Kriterien nicht.
Ich bin in Darmstadt gelaufen. Und das Rennen war in Ordnung.
Für die aus meiner Langstrecken-Sicht natürlich viel zu kurze Strecke, meine relativ lang andauernde Tempolauf-Abstinenz und meine defensive Renngestaltung darf ich mich nicht beschweren.
Ich wollte mir ohnehin die Kräfte für den am nächsten Wochenende bevorstehenden Tilburg-Cross aufsparen. Denn dort sollte sich ja alles entscheiden. Aber.
Dann kam dieser Dienstagmorgen.
Ich stand auf mit dem Gefühl, ich wäre mindestens hunderte Kilometer gelaufen. Vielleicht sogar das Doppelte, dreimal hintereinander.
Das Erste was ich tun konnte, war, meine Trainingsuhr mit zittrigen Fingern vom Ladekabel zu pfriemeln und das Ganze zu kontrollieren. Ich brauchte Beweise.
Für gestern zeigte das Display allerdings gerade mal zwölf gelaufene Kilometer an. Keine hundert, nur Zwölf. Zwö-hölf.
Und fühlte mich trotzdem wie gerädert. Vorsichtig ausgedrückt.
Irgendwann habe ich es dann vor den Spiegel geschafft, um nachzusehen, ob sich das matschige Gefühl äußerlich sichtbar gemacht hatte. Und ob. Was ich zu Gesicht bekam, gab mit Rätsel auf. Ein Mensch? Eher ein Zombie: Mein Gesicht war rot, glühend. Gleichzeitig war mir kalt, ich zitterte. Und ich sah wirklich ziemlich furchteinflößend aus.
Bis zu diesem Moment hatte ich immer noch nicht so ganz begriffen, was geschehen war. Transformation über Nacht? Kafkaeske Verwandlung? Ich grübelte, während der Tag seinen Lauf nahm und ich am späten Nachmittag ernüchtert feststellen musste, dass ich nichts, absolut rein gar nichts zustande gebracht hatte. Ich war kraftlos, träge, müde. Als mein Kopf während der Arbeit auf die Platte meines Tisches knallte, wurde mir langsam bewusst, was los war.
Ich griff zum Handy, rief meinen Trainer an: „Kurt ich bin krank.“ Schweigen am anderen Ende der Leitung.
Es war nicht nur eine lästige Erkältung. Es war kein Schnupfen oder ein bisschen Kopfweh. Stattdessen zeigte das Fieberthermometer die kommenden Tage im schönen Wechsel die Zahlen 39 und 40. Nachts konnte ich nicht schlafen, weil ich noch nie in meinem Leben solche Gliederschmerzen gehabt hatte.
Das Übel ging etwa bis Donnerstag. Ab Samstagabend traute ich mich zum ersten Mal wieder unter Leute und fühlte mich fast schon wieder wie das blühende Leben. Aber der Vereinsbus war an diesem Tag schon morgens um acht Uhr nach Tilburg aufgebrochen.
Eigentlich wollte ich nämlich dabei sein, bei der international hochkarätig besetzten Crossgala in den Niederlanden.
Nach einem grippalen Infekt mit Fieber den Wettkampf zu laufen, wäre aber absolut unverantwortlich und aus gesundheitlicher Sicht nicht vertretbar gewesen.
Das merkte ich auch bei den ersten Schritten nach der Krankheit: Man ist einfach noch ein bisschen geschwächt und sollte wirklich nicht gleich einen fast 10 Kilometer langen Cross-Wettkampf draufbolzen.
Aber mit der Entscheidung zuhause zu bleiben, die im Prinzip nie eine Entscheidung gewesen war, hatte ich die Cross-EM für mich in diesem Jahr abgehakt. Überhaupt wollte ich 2016 so schnell wie möglich vergessen. Ein Jahr voller Pannen, Pech und Pleiten.
Dann kam der Anruf. Dann kamen die Dinge ins Rollen. Bis ich mich versah, war ich Teil eines verdammt starken U23-Juniorinnen-Teams. Über die Einzelstart-Richtlinien hatten sich drei von uns qualifiziert. Mit vier Leuten gibt es eine Mannschaft. Mit fünf hat man Sicherheit. Wie schnell es gehen kann mit den Krankheiten um diese Jahreszeit, hatte ich nun ja am eigenen Leib erfahren.
Ich bin natürlich sehr stolz, dass mir der Verband trotz Ausfall in Tilburg sein Vertrauen schenkt und möchte dementsprechend nicht weniger als mein Allerbestes geben. Ich möchte zeigen, dass ich zu Recht in dieser Mannschaft bin, dass ich zu Recht mit nach Chia reisen darf.
Doch gleichzeitig sehe ich andere, die dafür nicht mitfahren dürfen. Ich sehe Philipp, der sich fragt, wo hier die Gerechtigkeit ist. Die Logik. Warum andere und er nicht?
Ich stehe genau auf der Gegenseite. Ich frage mich: Warum ich? Warum hat man mich ausgewählt? Ich war mir so sicher gewesen, dass die EM für mich mal wieder ein Kapitel des Scheiterns sein sollte. Von heute auf morgen haben sich die Dinge wieder anders gedreht, nachdem ich mich schon fast mit einem verkorksten Jahresabschluss abgefunden hatte.
Aber man darf nie vergessen: Jeden Tag werden die Karten neu gemischt. Jeden Tag verändert sich etwas. Es kommt immer anders als man denkt. Jede Wendung hat etwas Schlechtes, aber im Nachhinein vielleicht auch etwas Gutes.
Und das Gute ist für mich in diesem Moment: Ich bin jetzt immun gegen alle möglichen Viren und Bakterien. Ich kann jetzt wieder loslegen und in Chia hoffentlich mit viel Kraft an den Start gehen. Ich habe eine Chance bekommen – und werde mein Bestes geben, sie zu nutzen.