Zurzeit passieren seltsame Dinge: Meine Vereinskameradin wird nachträglich Jugend-Europameisterin, weil ihre Konkurrentin, die das Rennen um Gold für sich entschieden hatte für diesen einen Tag eine Dopingsperre auferlegt bekommt. Sie hat wohl einen Tee getrunken, der nachweislich leistungssteigernde Substanzen enthielt. Alle weiteren Leistungen bleiben bestehen und auch jetzt darf sie wieder, oder besser gesagt weiterhin an internationalen Wettkämpfen teilnehmen.
Ähnliches geschieht anderorts im Großen: Der internationale Sportgerichtshof Cas gibt den Klagen etlicher Athleten stand, die in die Dopingmanipulationen im russischen Team bei den olympischen Spielen in Sotschi 2014 verstrickt sind. Sie können nun kurzfristig doch bei den olympischen Spielen in Pyeongchang teilnehmen. Über weitere 47 Fälle wurde erst in der vergangenen Nacht, wenige Stunden vor der Eröffnungsfeier entschieden. Ist also Doping nicht gleich Doping?
So viel steht für mich fest: Im Falle jedes Athleten sollte eine gewisse Unschuldsvermutung gelten. Im Zweifel für den Angeklagten. Aber jeder Athlet hat auch die Verpflichtung, sich Kontrollen zu unterziehen. Jeder Athlet sollte gewissenhaft darauf achten, eine gewisse Form der Transparenz zu wahren, selbst wenn hierbei zwangsläufig auch gewisse Grenzen der Privatsphäre angetastet werden müssen. Der Sportler handelt hier nicht nur um seines eigenen Rufes willen, sondern auch in Verantwortung für das Ansehen des Sports. Und da sind eintägige Dopingsperren oder kurzfristige Wieder-Zulassungen zu Olympia ja irgendwie nicht das, was besonders viel Glaubwürdigkeit bringt. Oder sagen wir besser zurückbringt?
Spontan zum Bäcker oder Leben nach Zeitplan?
So in Gedanken hätte ich die Frau fast gar nicht bemerkt, die zwischen den parkenden Autos die Straße überquert. Ich bremse abrupt ab und warte, bis sie den Bürgersteig auf der anderen Seite erreicht hat. Sie trägt eine große dunkle Reisetasche und kommt mir bekannt vor wie jemand aus der Nachbarschaft, dem man hin und wieder begegnet. Ich halte Ausschau nach einem Parkplatz, rangiere in die Lücke, hole meine Einkäufe aus dem Kofferraum. Mit Tüten beladen und dem Schlüssel zwischen den Zähnen blicke ich erst an der Haustür wieder auf. Die Frau mit der Tasche steht davor. „Hallo Frau Reng, da kommen Sie ja gerade noch rechtzeitig.“
Erst jetzt schaltet mein Gehirn: Dopingkontrolle. Natürlich kenne ich die Frau. Ich weiß sogar ihren Namen, grüße jetzt freundlich, entschuldige mich für meine etwas ruppige Fahrweise und bin erleichtert. Was für eine peinliche Doppelmoral, gerade noch über Verpflichtungen von Athleten, Transparenz und Glaubwürdigkeit zu sinnieren und am Ende beinahe die eigene Kontrolle zu verpassen, weil man spontan entschieden hat, noch schnell zum Einkaufen zu fahren.
Das, wovor man sich als testpool-angehöriger Leistungssportler eigentlich ständig fürchtet, ist ein „missed test“ – also eine Dopingkontrolle, die nicht stattfinden kann, weil man nicht an dem Ort gefunden werden konnte, den man als Aufenthaltspunkt angegeben hat.
Für Eintragungen, wo man wann anzutreffen ist, gibt es die Online-Plattform „ADAMS“ und ich versuche, so gut es geht, meinen Tagesablauf so dort einzutragen, dass es immer eine Möglichkeit gibt, mich abzupassen.
Aber das ist leichter gesagt als getan: Wie oft fahre ich kurz zum Bäcker, einen Freund besuchen, noch in die Stadt einen Kaffee trinken oder eben schnell was im Supermarkt besorgen? Das kommt immer mal vor. Und ehrlich gesagt habe ich häufig genug nicht daran gedacht, meine Daten in „ADAMS“ entsprechend zu aktualisieren.
Heute hat es aber zum Glück ja geklappt. Mit der Kontrolleurin im Schlepptau stapfe ich schwer bepackt in den zweiten Stock und hinein in die stets gut beheizte Stube. „Das letzte Mal, dass sie hier sind“, verspreche ich der Dame grinsend, „ich ziehe bald aus.“ Sie kennt die „klimatischen Verhältnisse“ in meiner Wohnung bereits und zieht die Jacke noch vor den Schuhen aus. Ich hole mir währenddessen schon einmal eine große Flasche Wasser. Urinproben sind bei mir nämlich meist eine eher zeitintensive Angelegenheit. Aber auch das weiß die Kontrolleurin schon. Ich verräume meine Einkäufe, wir unterhalten uns ein wenig. Zurzeit passieren schließlich seltsame Dinge.
„Missed test“ dank technischer Probleme?
Vor ein paar Wochen habe ich zum Beispiel eine sehr verwirrende Benachrichtigung von der WADA mit folgendem Wortlaut erhalten: „Sehr geehrte(r) Athlet(in), in der Anlage erhalten Sie das Formular zur kürzlich bei Ihnen durchgeführten Dopingkontrolle.“ Dabei wurde bei mir zu diesem Zeitpunkt und auch nicht in den Tagen davor eine Dopingkontrolle durchgeführt. Wieder so ein kleiner Panik-Moment: Wurde ich von einem Dopingkontrolleur irgendwo nicht aufgefunden? Ich hatte mich doch in den letzten Tagen stets dort aufgehalten, wo ich hätte sein sollen. Ich war telefonisch erreichbar gewesen und hatte auch sonst alle Aufenthaltsorte so präzise und genau wie möglich eingetragen.
Letztendlich hat sich die Mail als Fehler bei „regelmäßigen Wartungsarbeiten“ der Datenbank herausgestellt, der scheinbar bei unzähligen Athleten weltweit aufgetreten war, die vermutlich alle genau so irritiert oder verunsichert waren wie ich.
Man lebt einfach mit dieser Horrorvorstellung, irgendwann gesperrt zu werden, obwohl man sauber ist. Ich bin in vielen Dingen übervorsichtig. Bei Medikamenten zum Beispiel: Lieber ein zweites Mal auf der „Prohibited list“ checken, ob man das nehmen kann und lieber nochmal beim Arzt nachfragen. Ähnlich ist es bei Sachen, die ich esse und trinke: Sogar beim Mohnkuchen meiner Oma winke ich ab, obwohl ich den früher echt lecker fand. Angeblich enthält der ja irgendwelche Substanzen, die in großen Mengen…
„Da müssten Sie schon den ganzen Kuchen auf einmal essen“, schmunzelt die Kontrolleurin. Trotzdem. Sicher ist sicher. Ich nehme zur Bekräftigung noch einen kräftigen Schluck. Die 1,5-Liter-Flasche ist jetzt leer.
Eine halbe Stunde später kann ich deshalb zum Glück auch meine Probe abgegeben. Vom Plastikbecher in die Glasflaschen, erst die B-Probe, dann die A-Probe, bis zum Strich, Deckel drauf. Das gewohnte Prozedere eben.
Neue Flaschen, alte Unsicherheit?
Ich will schon wie immer kräftig zudrehen, als mich die Kontrolleurin darauf hinweist, dass es sich bei den Flaschen um ein neues Produkt handelt: „Die sind jetzt noch sicherer. Aber sie werden anders verschlossen“, erklärt sie, „man soll nicht mehr so weit drehen wie möglich.“ Die korrekte Handhabung sieht stattdessen nun vor, dass man den Deckel nur ein paar Mal einrasten lässt und dann kräftig in die entgegengesetzte Richtung dreht, um zu testen, dass alles dicht ist. Da ich sowieso viel weniger Kraft habe als manch anderer Sportler mit etwas mehr Armuskeln, stört mich das nicht im Geringsten. Dann habe ich vielleicht keinen Nachteil mehr, weil ich die Flasche nicht so weit drehen kann wie ein Kugelstoßer.
Ein paar Minuten später sind die Flaschen in ihrem Kit aus Plastik und Karton verpackt. Nach den nötigen Unterschriften ist die Kontrolle beendet und ich weiß ganz genau, dass ich die nächste Stunde ununterbrochen auf die Toilette rennen werde. Dafür werden die getrunkenen 1,5 Liter schon sorgen.
Kurze Zeit später habe ich dann auch wieder eine Mail im Postfach: „Sehr geehrte(r) Athlet(in), in der Anlage erhalten Sie das Formular zur kürzlich bei Ihnen durchgeführten Dopingkontrolle.“ Diesmal bleibt die Beunruhigung aus. Aber auch nur für ein paar Stunden.
Denn was an diesem Abend öffentlich gemacht wird, lässt mich und Millionen andere Menschen, egal ob Athlet, Trainer, Funktionär oder Nichtsportler wieder einmal daran zweifeln, dass unser Sport noch die heile Welt ist, die er vorgibt, zu sein:
Im Rahmen von ARD-Recherchen ist es gelungen die neuen, „noch sichereren“ Glasflaschen für Dopingkontrollen zu knacken. Sie konnten problemlos geöffnet und manipuliert werden. In dem Beitrag der Sportschau wirkt es kinderleicht.
Ich bin erschüttert: Heute Vormittag habe ich meine Urinprobe selber noch in eine solche Flasche gefüllt. Dass sie sicher und unversehen im Labor ankommt, scheint auf einmal nicht mehr gewährleistet. Denn das, was vor vier Jahren in Sotschi passiert ist, zeigt für mich ja nur die eine Seite der Medaille: Es war möglich, positive Dopingtests zu vertuschen. Theoretisch ist es ja aber genau so möglich, eine negative Probe zu verunreinigen. Also wieder mal eine neue Form der Unsicherheit, mit der man als Leistungssportler zu leben hat.
Olympia – eine Farce des modernen Sports?
Ein jüdisches Sprichwort sagt „Prüfe den Inhalt, nicht die Flasche“. Doch was, wenn die Flasche nicht mehr ihren Zweck erfüllt, den Inhalt nicht vor Außeneingriffen zu schützen? Wie wird man vorgehen? Wie schnell werden neue Behältnisse produziert sein, die derzeitige Mängel nicht aufweisen? Oder ist das gar nicht möglich? Ist das System sowieso schon ruiniert? Sind fälschungsanfällige Flaschen vielleicht nur die Spitze des Eisbergs?
In diesen Stunden findet die Eröffnungsfeier der Olympischen Winterspiele in Pyeongchang statt. Und schon ohne die Geschehnisse der letzten Tage haftete ihnen ein gewisses Maß an Zweifeln und Misstrauen an, die das weltweit größte Fest des Sports nun nur noch mehr zu einer Farce verkümmern lassen, bei der – ganz nach Etikettenschwindlermanier – nicht mehr das drin ist, was draufsteht. Spätestens, wenn es wieder jemandem gelingt, die neuen Flaschen in irgendeiner Form zu manipulieren. Angeblich wurden zusätzliche Wachsversiegelungen und andere Methoden zur Gewährleistung der Sicherheit diskutiert. Vermutlich aber alles zu umständlich, nicht umsetzbar. Ein Chaos, dem man wohl in absehbarer Zeit nicht Herr werden wird.
Ich könnte hier ernüchtert den Satz wiederholen, mit dem mein Text schon begonnen hat: Zurzeit passieren seltsame Dinge. Meine Befürchtung ist allerdings, dass das nicht erst seit Kurzem, sondern schon viel länger der Fall ist, als wir uns das gerade vorstellen können. Vorstellen wollen.
Weiterführende Links:
ARD-Reportage zu Doping-Enthüllungen und manipulierbaren Glasflaschen
Bericht über Cas-Freispruch russischer Wintersportler vor den Olympischen Spielen
Aktueller Bericht zur beibehaltenen Sperrung russischer Athleten kurz vor den Olympischen Spielen