Heute soll es um einen Athleten gehen, den ich in den vergangenen Jahren als Vereinskameraden sowie als Mannschaftskollegen im Team des DLV erleben durfte. In einem Gespräch während des Oster-Trainingslagers in Cervia hat er mir nun Rede und Antwort gestanden und ich freue mich, ihn euch heute ein bisschen näher vorzustellen…
13. Dezember 2015:
Das Team des DLV sitzt in einem kleinen Raum zusammen. Gerade sind die Cross-Europameisterschaften im französischen Toulon-Hyères zu Ende gegangen und die Bundestrainer lassen gemeinsam mit den Athleten die letzten Stunden Revue passieren. Allen Anwesenden sind die Anstrengungen der vergangenen Rennen noch ein wenig anzumerken, gleichzeitig aber auch die Freude auf die bevorstehende Abschlussfeier mit den Läufern aller anderen Nationen. Die meisten sind mit ihrem heutigen Abschneiden sehr zufrieden, die Erfolge können sich sehen lassen und so gibt es viel Anerkennung und Lob für die Einzel- und Mannschaftsleistungen. Als die Betreuer ihre Sportler entlassen wollen, damit diese endlich ausgiebig feiern können, ergreift plötzlich einer unter ihnen das Wort: „Ich möchte mich gerne noch im Namen aller Athleten beim ganzen Trainerteam bedanken. Ihr habt einen tollen Job gemacht. Dass heute alles so gut gelaufen ist, ist nicht zuletzt euer Verdienst. Ich denke ich spreche im Sinne aller, wenn ich sage, dass euer tatkräftiger Einsatz keine Selbstverständlichkeit ist.“
Alle Blicke sind auf den jungen schlanken Mann mit der Brille und den blonden Haaren gerichtet. Es dauert nicht lange und schon spenden ihm die übrigen Athleten zustimmend Applaus.
Wer ist dieser Sportler, der so gut in Worte fassen kann, was ihnen allen durch den Kopf geht? Der so viel Respekt und Vertrauen in der Mannschaft genießt?
Ich heiße Florian Orth und bin nun wirklich schon oft bei der Cross-EM dabei gewesen. Das erste Mal 2007 in Toro, also vor über acht Jahren. Da würde ich mich schon als erfahrenen Athleten bezeichnen. In Toulon-Hyères habe ich deswegen ein bisschen die Verantwortung für das Team übernommen, unter anderem war ich ja auch der einzige Starter in der männlichen Erwachsenenklasse. Vielleicht nehme ich da eine gewisse Vorbildfunktion ein, aber natürlich kann ich mich ebenso noch sehr gut an die Zeit erinnern, als ich selbst noch Jugendlicher war. Ich musste genauso erst mit dem Lauf der Zeit in meinen Sport hineinwachsen. Man erfährt ja immer wieder Neues. Und ich kann heute gleichfalls von den jüngeren Athleten dazulernen.
Ich finde trotzdem, dass es Sachen gibt, die man sich erst erlauben kann, wenn man eine gewisse Erfahrung und einen bestimmten Status erreicht hat. Bei meinen ersten Starts mit dem „Adler auf der Brust“ hätte ich sicherlich in manchen Situationen zurückgesteckt, in denen ich heute ganz klar sagen würde: „Das gefällt mir nicht“. Mit der Zeit wird man einfach zu einem mündigen Athleten und darf sich ruhig mal trauen, hier und da seine Meinung zu sagen.
Zum Beispiel habe ich im vergangenen Jahr deutlich gemacht, dass ich es sehr enttäuschend fand, nicht für die Weltmeisterschaften nominiert worden zu sein. Ich hatte die Norm hierfür denkbar knapp verfehlt. Nun habe ich ja wirklich jahrelang die Nationalmannschaft unterstützt, habe unermüdlichen Einsatz gezeigt, bin immer zur Verfügung gestanden und dann wurde mir die Teilnahme in Peking nicht ermöglicht. Das war ein harter Rückschlag für mich und das wollte ich nicht einfach so herunterschlucken.
Aber man muss eben lernen auch mit Enttäuschungen umzugehen. Oftmals kann man ja gar nichts dafür: Bei meinen Europameisterschafts-Rennen in Zürich und Helsinki wurde ich unverschuldet im Gedränge zu Fall gebracht. Nach solchen Stürzen muss man wieder aufstehen und darf danach nicht völlig verunsichert sein. Natürlich geht eine gewisse Nervosität vor dem Wettkampf mit der jahrelangen Routine trotzdem nicht komplett verloren, man kann sie höchstens ein bisschen besser verbergen.
26. Juli 2015:
Hinter der Startlinie haben sich die besten Mittelstreckler Deutschlands versammelt. Der Reihe nach werden sie den Zuschauern vorgestellt. Die meisten von ihnen können sich kaum noch stillhalten, am heutigen Tag heißt es für sie „alles oder nichts“ – es geht um den Deutschen Meistertitel über die 1500-Meter-Distanz. Monatelang haben sie sich fokussiert auf dieses Rennen vorbereitet und möchten am liebsten sofort losstürmen. Einer von ihnen ist trotzdem die Ruhe selbst. Locker, entspannt, abgeklärt lächelt er in die Kamera, lässt sich keine Anspannung anmerken. Sobald es zum Startschuss ganz still wird im Stadion, setzt er seine Sonnenbrille auf und richtet den Blick nach vorne. Es ist nicht zu erkennen, ob in seinen Augen nicht wenigstens ein klein wenig Unsicherheit zu erkennen ist. Alles Kalkül? Ein geschickter Trick, um unnahbar zu wirken? Was geht wohl gerade im Kopf von Florian Orth vor?
Meine Sonnenbrille habe ich aus ganz praktischen Gründen und nicht, um mich abzuschotten oder wegen einer speziellen Taktik. Ich trage sie genauso im Training und bin ja auch im Alltag Brillenträger. Im Wettkampf kommt es mir eher auf eine kluge Renneinteilung an, um am Schluss meine Gegner zu besiegen. Gerade wenn man älter wird und die Spritzigkeit ein bisschen nachlässt, ist es vorteilhaft, sich schon vor dem Endspurt eine gute Position erarbeitet zu haben. Sollte es auf den letzten Metern doch einmal knapp werden, möchte ich trotzdem nicht chancenlos sein. Deshalb arbeite ich besonders an dieser Schlusssprintfähigkeit. Ansonsten habe ich keine „Schwachpunkte“, die ich im Training gezielt fokussiere. Was natürlich nicht heißen soll, dass ich absolut fehlerfrei bin. Ich versuche immer wieder, von anderen Sportlern zu lernen. Zum Beispiel von meiner Freundin Maren Kock: Sie geht das Training total locker und entspannt an, das bewundere ich.
26. Juli 2015
Florian Orth kann es kaum fassen. In einem Foto-Finish hat er sich gegen Sebastian Keiner durchgesetzt. Sobald feststeht, dass es für den deutschen Meistertitel gereicht hat, stürmt eine überglückliche Athletin auf ihn zu, umarmt ihn überschwänglich und gibt ihm einen Kuss. Auch sie ist in der Leichtathletik-Szene bei weitem kein unbeschriebenes Blatt – im Gegenteil: Nur eine Viertelstunde zuvor hat Maren Kock ihren Titel über die 1500 Meter der Frauen verteidigt. Sie und Florian sind ein wahres Erfolgs-Duo, das Beobachter immer wieder davon überzeugt: Wer sich in so vielen Dingen so ähnlich ist, kann nur gut zusammenpassen. Die beiden starten für denselben Verein und haben die 1500-Meter-Distanz als Hauptstrecke. Dass sie trotzdem keine ganz normale Beziehung führen, wissen vielleicht die wenigsten. Denn während Maren im hohen Norden Deutschlands lebt, hat Florian bis zu seinem Staatsexamen im Sommersemester 2015 in München studiert und ist danach in seine Heimat in Hessen zurückgekehrt. Wie viel Organisationstalent und Verzicht zu einer Fernbeziehung gehört, weiß der ein oder andere sicherlich nur zu gut. Aber kann so etwas auch im Alltag eines professionellen Athleten funktionieren, der ja anstrengende Trainingseinheiten, Wettkämpfe, Trainingslager und noch viele andere Dinge in seinem Terminplan unterbringen muss?
Ich bin der Meinung, dass eine Beziehung zwischen zwei Profisportlern sehr viele Vorteile bringt. Man bekommt nicht nur Verständnis für das, was man eben die meiste Zeit so tut, sondern man hat sogar jemand, der diese Beklopptheit teilt. Man kommt sich nicht so verrückt vor, weil der andere genauso tickt wie man selbst. Und trotzdem haben Maren und ich noch ein „eigenes“ Leben neben dem Sport: Maren bei ihrer Familie im Emsland und ich in meiner hessischen Heimat, seit ich letztes Jahr mein Studium in München beendet habe. Trotz Olympiajahr bin ich hier als Zahnmediziner tätig. Das ist ein Vollzeitjob, der viel Zeit und Kräfte kostet. Nachdem ich aus München gekommen bin, hat es erst ein wenig gedauert, bis sich die Abläufe wieder eingespielt hatten: Natürlich kann ich jetzt von ein paar Vorteilen profitieren, wie vom Abstand zum Wohnort von Maren, der sich nun mehr als halbiert hat. Außerdem habe ich nun auch wieder engeren Kontakt zu meinem Trainer Klaus Bornmann, der in den letzten Jahren oft nur telefonisch stattfinden konnte. Andere Dinge wie Physio, Trainingszeiten und –orte mussten dagegen erst einmal wieder abgestimmt und an meinen Tagesablauf angepasst werden. Das hat schon einige Zeit gedauert. Mittlerweile habe ich es zum Glück so eingerichtet, dass es passt. Aber von selbst ging das auch nicht. Dadurch, dass ich in der Praxis meiner Eltern arbeite, habe ich glücklicherweise ein bisschen mehr Freiheiten was Arbeits- und Urlaubszeiten betrifft. So kann ich auch einmal mehrere Wochen ins Trainingslager fahren und mich gut auf meine Saisonhöhepunkte vorbereiten.
22. März 2015:
Auf der Tartanbahn im italienischen Cervia herrscht buntes Treiben: Bei dem sonnigen Wetter kommen Athleten aus den umliegenden Orten und wollen von der wärmenden Sonne profitieren. Ob Sprinter, Springer, Werfer oder Hürdenläufer – alle sind sie heute im Stadion, um im Training ihr Bestes zu geben. Eine Handvoll junger Männer dreht ebenfalls ihre Runden. Nicht selten müssen sie auf die Außenbahnen weichen, um andere Gruppen zu überholen, denn eines ist für Beobachter sofort zu erkennen: Diese Athleten sind unglaublich schnell. In der letzten Runde stürmt einer von ihnen an der Spitzenposition voraus, die übrigen Läufer orientieren sich an seinem Tempo, lassen sich mitziehen und motivieren. An der Sonnenbrille und den blonden Haaren erkennen Beobachter sofort, dass es sich um Florian Orth handelt, der hier mit seinen Mannschaftskameraden der LG Telis Finanz Regensburg trainiert. Vom Rand werden sie von anderen Teamkollegen lautstark angefeuert. Die Anstrengung ist ihnen allen anzusehen, aber sobald die Trainingseinheit beendet ist, auch der Stolz über das, was sie gemeinsam erreicht haben.
Die Stimmung unter den Athleten, gerade bei denen, die eine Qualifikation für Rio anstreben ist aus meiner Sicht derzeit noch eher gespannt und vorfreudig als besonders konkurrenzgesteuert. Deswegen genieße ich es auf jeden Fall, mit Sportlern zu trainieren, die dasselbe Saisonziel verfolgen. Ich persönlich vertrete aber nicht die Sicht, dass man nur dann als „vollendet“ gilt, wenn man an den olympischen Spielen teilgenommen hat. Gerade als deutscher Läufer sollte man sich ja immer bewusst sein, dass man dort eher selten eine vordere Platzierung erreichen kann. Ich sehe auf jeden Fall die Chance für mich, in Rio mit dabei zu sein. Und natürlich möchte ich sie nutzen. Die Normerfüllung steht für mich dieses Jahr natürlich im Vordergrund, aber sie ist bei weitem nicht alles. Mit so einer Qualifikation sind ja auch sehr viele organisatorische Überlegungen verbunden: Wo möchte ich sie laufen? Über welche Strecke möchte ich sie überhaupt erreichen? Momentan ist mein Plan, bei der EM in Amsterdam die 5000m zu laufen und in Rio dann die 1500m. Allerdings liebäugelt man nach der Herabsetzung der Normen sogar ein wenig mit der Olympia-Norm über 5000m. Vielleicht kann ich sie schaffen. Ich bin wirklich noch nicht sicher, welche Strecke ich in Angriff nehmen möchte. Ich vertraue hier auch sehr stark auf den Rat meines Trainers Klaus Bornmann. Er ist mein Patenonkel und kennt mich schon als kleinen Schreihals. Mein Vater war sein allererster Athlet und als ich im Schüleralter mit dem leistungsorientierten Sport begonnen habe, hat Klaus mich sofort in seine Gruppe aufgenommen. Wir haben wirklich ein sehr enges Verhältnis.
26. März 2015:
Die Eisdiele im Zentrum von Cervia hat erst seit ein paar Tagen geöffnet. Im März, wenn das Wetter oft noch nicht so sommerlich ist, lässt sich noch kein allzu rentables Geschäft machen. Doch heute, einen Tag vor Ostern steuert eine große Gruppe auf die Theke mit den vielen verlockenden Sorten zu. „Langt zu!“, fordert Florian Orth seine Kameraden auf, „ich soll euch stellvertretend für C
laus einladen, jeder bekommt zwei Kugeln“. Das lassen sich die hungrigen Sportler nicht zweimal sagen und nachdem sie alle zufrieden mit einer Eiswaffel in der Sonne sitzen, telefoniert Florian Orth mit Klaus Bornmann und bedankt sich bei seinem Trainer, der dieses Jahr nicht mit im Trainingslager dabei sein kann. Wegen eines Unfalls kurz nach der deutschen Hallen-Meisterschaft ist er vorsichtshalber in der Heimat geblieben. Ein Unglück, auf das Florian Orth sicherlich gern verzichtet hätte, nachdem für ihn bei der Hallen-DM mit einem Doppel-Titel über 1500 Meter und 300 Meter ja alles glatt gelaufen war. Vielleicht ein bisschen zu glatt?
Die zwei Meistertitel waren für mich natürlich ein tolles Ergebnis. Dass eine Woche später auch noch der Sieg bei den deutschen Hallenmeisterschaften dazukam, war die Freunde natürlich noch größer. Man muss diese Erfolge aber auch richtig einordnen können. Man darf ja zum Beispiel nicht vergessen, dass die Titelverteidiger aus dem letzten Jahr gar nicht gestartet sind. Die Konkurrenz war allerdings trotzdem stark. Deswegen war ich schon ein bisschen überrascht. Es hat sich über die Vorleistungen zwar angedeutet, dass ich bei meinen Starts auf jeden Fall ein Wort mitreden kann, wenn es um die Titelentscheidung geht, aber die Platzierungen werden ja doch erst im Wettkampf vergeben. Ich habe mir auf allen Strecken viel zugetraut und bin mutig losgelaufen. Das hätte genauso gut schiefgehen können, gerade auf den 3000 Metern. Am Schluss habe ich da schon gemerkt, dass meine Kräfte ein bisschen schwinden. Dass es dennoch für den Sieg gereicht hat, war dann eine umso größere Motivation für die Cross-DM sowie für alle weiteren noch anstehenden Aufgaben.
Ich schaue nämlich nicht gern nur auf ein einziges großes Endziel. Ich arbeite am liebsten in Etappen: Ich will mir immer die Frage beantworten können „Wofür trainiere ich gerade?“. Dazu hat die Teilnahme bei der Cross-EM im Winter und nun eben auch die Hallen-DM und die Cross-DM gedient. Die Wettkämpfe waren eine schöne Abwechslung zum harten Trainingsalltag, Zwischenziele in der Vorbereitung auf den Sommer.
Darum hat übrigens die die Hallen-WM für mich von vornherein keine Rolle gespielt: Aufgrund meiner Leistungen im Vorjahr hätte ich zwar teilnehmen können und eigentlich bin ich der Meinung, dass man niemals einen Nationalmannschaftseinsatz ausschlagen sollte. Es ist doch immer wieder eine große Ehre und man sollte diese Chance jedes Mal nutzen, wenn man sie bekommt. Der Sport ist ein kurzlebiges Geschäft, man weiß nie, was morgen kommt. Doch 2016 ist nun mal ein ganz besonderes Jahr, da kann man nicht drumherum reden, es ist das Olympiajahr, da ticken die Uhren ein bisschen anders. Der Termin der WM kam einfach sehr spät, ich hätte nicht mit meinem Verein ins Trainingslager fahren können. Für meine Saisonvorbereitung wäre das wirklich ein großer Verlust gewesen. Darum habe ich Portland nicht so viel Bedeutung beigemessen und konzentriere mich lieber auf die Wettkämpfe im Sommer.
August 2016:
Das deutsche Olympia-Team steht fest, nun sind alle Nominierungen verkündet. Wenn die Athleten im olympischen Dorf einziehen, soll einer unter ihnen Florian Orth sein, der Mittelstreckenläufer, der Rückschläge wie die knappe Verfehlung der WM-Norm oder zwei Stürze bei den Europameisterschaften hinnehmen musste. Einer, der trotzdem sagt, dass er noch nie mit Motivationsproblemen zu kämpfen hatte. Einer, der immer wieder aufgestanden ist, der es verdient hat, in Rio an der Startlinie zu stehen. Wir wünschen ihm viel Erfolg bei der anstehenden Normenjagd, damit er am Ende zufrieden sagen kann: „Ich habe mein Ziel für 2016 erreicht, die Taktik ist aufgegangen.“