Im Laufsport wird die beste Leistung schon lange nicht mehr selbstverständlich entsprechend honoriert und ich schreibe bewusst nicht „Leichtathletik“, denn dieser widerfährt sowieso kaum noch die Wertschätzung der breiten Öffentlichkeit – oder wie war das mit Richard Ringers 13:10min im letzten Jahr in Heusden? – Ich befürchte der gemeine Konsument massentauglicher Medien fragt sich beim Anblick dieser Zeit wahrscheinlich, welche Pace seine Smartwatch für die drei Kilometer wohl anzeigen würde, oder ob man bei dem Tempo noch Selfies für Instagram schießen kann, oder ob Richard Ringer denn nicht länger als 13 Minuten am Stück laufen kann.
Die Aufmerksamkeit des Laufsports beschränkt sich inzwischen fast ausschließlich auf die sozialen Medien, Facebook, Instagram, Snapchat, Twitter, Youtube Blogger und wer dort nicht dabei ist, kann heute nur noch schwer Geld verdienen. Die Tatsache an sich muss nicht zwingend negativ bewertet werden, sondern bietet auch Chancen, sich und seine Sportart zu vermarkten.
Die Hahner-Twins und Rio waren schon in aller Munde bevor der internationale Qualifikationszeitraum überhaupt begonnen hatte. Ein gewagtes Marketingspiel, das gerade nochmal gut ging, bevor die Stimmung kippte. Vor allem viele Leistungssportler, damit meine ich grob gefasst die Top 50 m/w in Deutschland, sind zunehmend genervt vom Turbomarketing der Beiden. Der Spiegel beäugt das Dreigespann um Manager Thomas Dold in Ausgabe 13/2016 sehr kritisch als „Wir-AG, wie es sie im deutschen Sport noch nie gab“ und zeichnet ein bewusst negatives Bild von der Geschäftstüchtigkeit des Trios. Aber was genau ist denn so verwerflich daran, einen Fanclub zu haben, der mit seinen Jahresbeiträgen bereits im Januar die Miete für das ganze Jahr sichert? Und wo liegt darin der Unterschied zu den Fanclubs im Fußball? Es handelt sich dabei schließlich um ein zwangloses Commitment ihrer Gefolgschaft bzw. Follower.
Auch wenn ich persönlich die Vielzahl von Vorträgen, PR-Terminen und Show-Wettkämpfen als stark leistungsmindernd einstufe und die jüngste Vergangenheit dies nahelegt, verkaufen die Hahners, die sich laut Interview selbst als „Sportunternehmerinnen“ und nicht Läuferinnen sehen, ihren Kunden keine Unwahrheiten. Sie sprechen offen vom „Dabeisein“ in Rio und nicht von Medaillen oder Weltspitze. Man sollte ihnen nicht vorwerfen, mit ihrer Weltranglistenplatzierung (105, Lisa 2015 und 47, Anna 2014) nicht hausieren zu gehen, das würde sicher auch Arne Gabius als zweitschnellster Nicht-Afrikaner und Deutscher Rekordhalter auf Rang 73 ungern unmittelbar zu Werbezwecken tun. Richard Ringer steht übrigens auf Rang 29.
Ich bin Überzeugt die Hahners könnten mit weniger aggressivem Marketing und mehr Fokus auf den Sport noch bessere Leistungen erbringen, aber so absurd es jetzt klingt, würden sie damit sehr wahrscheinlich auch sehr viel weniger Geld verdienen. Zu Olympia haben sie es trotz aller Kritik an ihrem Medienrummel ja trotzdem geschafft, also warum für 10 Plätze weiter vorne die finanzielle Sicherheit aufgeben? Sie haben sich für den wirtschaftlich betrachtet optimalen Punkt im Trade-off zwischen sportlicher Leistung und Existenzsicherung entschieden. Man muss das nicht gut finden und kann andere Prioritäten setzen, aber moralisch verwerflich ist daran nur der finanzielle Neid, der ihnen entgegen schlägt. Scheinheilige Doppelmoral ist in meinen Augen der negative Beigeschmack der Berichterstattung des Spiegels, der auf der anderen Seite Fußballer verherrlicht, die für das gleiche Gehalt i.d.R. vergleichsweiße wenig sportlichen Einsatz zeigen.
Es können sich eben die allerwenigsten Leistungssportler abseits vom Fußball ein hundertprozentiges Bekenntnis zum Leistungssport und dem erforderlichen train-eat-sleep-repeat-Rhythmus leisten. Die Meisten arbeiten zumindest halbtags, um über die Runden zu kommen, auch das ist nicht leistungsfördernd. Da stellt sich mir die Frage, ob der im wirtschaftlichen Vergleich erfolgreichere Weg der Hahner-Twins wirklich so schlecht ist?
Leistungssport sehe ich als kompromisslose Optimierung des persönlichen Leistungsvermögens im Hinblick auf Bestzeiten und ist finanziell betrachtet Liebhaberei. Profisport ist dagegen wirtschaftlich motiviert und unterliegt den Gesetzen von Angebot und Nachfrage. Da es in Deutschland nun mal kein staatliches Programm mit ausreichender Unterstützung für olympische Sportarten gibt, müssen sich die Protagonisten den Marktzwängen des Profisports unterwerfen.
Philipp Pfliegers Wechsel von der Bahn zum Marathon war keine Herzensangelegenheit. Auch dem geschulten Auge seines Trainers Kurt Ring wird nicht entgangen sein, dass er nicht der geborene Marathonläufer ist. Die Qualitäten des Regensburger wären für eine 27er Zeit über 10.000m gut gewesen, die ist sportlich um einiges höher zu bewerten als sein 2:12:52 Stunden Marathon. Nur konnte er sich ein Bekenntnis zur sportlich höherwertigen Leistung nicht mehr leisten, er stand, wie auf der Regensburger Website zu lesen war, vor der Existenzfrage. Garnichts mehr laufen und arbeiten oder eben Marathon. Hätte er im letzten Jahr in Berlin nicht geliefert, stünde er heute im konventionellen Berufsleben.
Eine Olympiateilnahme sichert nun mal auf die nächsten vier Jahre Sponsoren und Auskommen und das einem Marathonläufer nochmal deutlich besser als einem klassischen Bahnläufer, weil der Marathon eben auch medial und damit wirtschaftlich eine große Rolle spielt. Aus diesem Grund gab es auch nie eine Protestwelle gegen die vergleichsweise viel schwereren Olympianormen über 5.000m und 10.000m. Erst als es potentielle Qualifikanten im Marathon gab ergriffen die großen Veranstalter Partei für die Athleten, löblich aber nicht ohne Eigennutz. Von daher kann ich nicht verstehen, dass sich der Frankfurt Marathon in Person von Jo Schindler über horrende Antrittsforderungen der Hahners brüskiert und gleichzeitig deren Ruhm auf Instagram für sich instrumentalisiert. Er hat doch selbst zu der Entstehung eines Business beigetragen, in dem Follower und Facebook-Likes über sportliche Leistung gestellt werden. Und das soll jetzt den Athleten vorgeworfen werden, die dabei am besten mitspielen?
Auch Bundestrainer Wolfgang Heinig kommt im Spiegel zu Wort. Er hält den Hahners mangelnden Teamgeist vor, weil sie sich 2014 gegen die unentgeltlichen Europameisterschaften und für einen lukrativen Herbstmarathon entschieden haben.
Nachvollziehen kann ich auch diesen Vorwurf nicht. Der Verband finanziert im Vorfeld wenig bis keine Trainingslager und trägt auch sonst nichts zum Lebensunterhalt bei. Aus welchem Grund sollten sich die Zwillinge dem DLV zur Gratisleistung verpflichtet fühlen? Etwa aus Dank für die fehlende Unterstützung von Annas Nominierung zu den Olympischen Spielen von London 2012 wegen 14 Sekunden beim Debut? Die Beiden sind, wie viele andere, dem Verband überhaupt nichts schuldig, auch keine Rechenschaft über ihre Trainerwahl. Wenn Herr Heinig sich beschwert, über die Trainingsmethodik von ihrem Coach Renato Canova nicht Bescheid zu wissen, frage ich mich, ob er die letzten 10 Jahre komplett verschlafen hat, oder es einfach am fehlenden Englisch Unterricht in der DDR scheitert. Sonst ist der DLV doch auch nicht besonders am Leistungsstand „seiner“ Athleten interessiert, bei Vielen geht die Betreuung über zwei Telefonate im Jahr nicht hinaus.
Fazit:
Die Zeiten, in denen große Hersteller und Veranstalter den Athleten Geld schenken, nur weil sie gut sind, sind leider lange vorbei. In den eigenen Verband kann man auch keine Hoffnungen setzen. Olympiasieger wird man ohne Doping nicht, mit Glück erreicht man noch den Endlauf. Die neue Währung heißt Follower und jeder muss für sich entscheiden, wie er damit umgeht.
Wenn man das einmal realisiert hat, kann man weiterhin die Hahners belächeln, muss aber zumindest anerkennen, dass sie auf ehrlichem Wege das Beste aus dem System rausholen, sie könnten ja auch für einen dritten Platz zur Spritze greifen. Viele Leichtathleten verkaufen sich mit einer gehörige Portion Eigenverschulden schlecht, daran ändert auch der Neid auf andere nichts.
Sebastian Reinwand