Ein Rennen in den Sand gesetzt. Wochenlang trainiert, vorbereitet, gearbeitet, geschwitzt. Wofür? Umsonst. Nur für die Enttäuschung. Ich hab keinen Bock mehr. Ich kann das nicht mehr haben. Das zieht mich runter. Andauernd. Ständig. Immer und immer wieder treibt es mich zum Weinen, zur Weißglut, zum Wahnsinn. Ich will das nicht. Nicht mehr. Ich hör auf damit.
Ein Rennen in den Sand gesetzt. Ich kann doch. Ich hätte gekonnt. Ich hätte gekonnt, wenn. Ja wenn. Wenn dieses bescheuerte wenn da nicht wäre. Wenn es so einfach wäre. Dann würde es ja vielleicht sogar Spaß machen. Aber so? Warum mache ich sowas überhaupt? Warum mache ich das alles mit? Etwas, das unangenehm ist. Etwas, das mir wehtut. Etwas, das mich vielleicht kaputt macht irgendwann. Wer garantiert mir, dass ich nicht irgendwann daran zerbreche? Ich war ja schon so oft kurz davor.
Ein Rennen in den Sand gesetzt. Andere stehen da drüber. Andere können so viel einstecken. Andere rappeln sich immer wieder auf und gehen gestärkt aus Niederlagen hervor. Aber wie soll ich jemals wieder das Ziel erreichen? Von Boden aus, von ganz unten.
Ein Rennen in den Sand gesetzt. Und ja, verdammt: Ich schäme mich. Und wie ich mich schäme. Vor allen, die zugesehen haben. Die mich am Start gesehen haben, noch zuversichtlich. Die mich auf den ersten Kilometern gesehen haben, noch optimistisch. Die mich hinfallen gesehen haben, völlig verwirrt. Die zusehen mussten, wie ein Körper, der wochenlang auf diesen Tag hingearbeitet hat in einer kniehohen Gartenhecke sich seines Mageninhaltes entleert. Völlig niedergeschlagen.
Was dann passiert, kann ich nur schemenhaft rekapitulieren.
Die Ereignisse sind schlichtweg an mir vorbeigezogen wie im Zeitraffer, bis ich plötzlich nicht mehr sicher war, ob die Zeit nun nach vorne oder nach hinten gedreht wurde. Ich versuche, zu erklären:
Ich stehe da und kann noch nicht mal weinen. Ich rapple mich wieder auf, unter den Augen der Umstehenden, beginne ich wieder, zu laufen. Ich kann das Gleichgewicht kaum halten, torkle ein bisschen herum wie eine Angetrunkene auf High Heels. Ich will weiter. Von hinten kommt die Verfolgergruppe mit Fabienne Amrhein. Da kann ich mich vielleicht mitziehen lassen. Ich versuche, Anschluss im Feld zu finden. Keine Chance. Ein „Auf geht’s Fabienne“, bekomme ich noch hin und ein paar hundert Meter. Dann steuern meine Beine wie von selbst an den rechten Rand und ich übergebe mich ein zweites Mal.
Ich bleibe stehen. Es ist jetzt vorbei. Ich beginne, die Tatsache zu akzeptieren. Plötzlich höre ich eine Stimme: „Franzi, was ist los?“. Markus! Er hat mich erkannt. Schau doch nicht nach mir. Renn weiter, Junge, renn weiter. Kümmer‘ dich bloß nicht um mich. Niemand soll sich kümmern. Ich komm schon weiter. Zumindest bis Kilometer zwanzig. Da ist bestimmt Anja. Ich muss zu Anja.
Ich humple, ich gehe, halte mich an Gartenzäunen und Straßenschildern fest. Mein Magen rebelliert, mein Rücken hält jede Erschütterung für ein Erdbeben. Nicht abrutschen. Weitergehen. Eine Frau bietet ihre Hilfe an. „Ich schaff’s schon.“ Sie lässt nicht locker, hält mir ihren Arm hin. Stützt mich. Begleitet mich. Es ist nicht mehr weit. Nicht mehr weit.
Die Frau redet ruhig mit mir. Ich versuche, gefasst zu wirken. Ich sage, dass ich enttäuscht bin. Dass ich zu Anja will. Aber ich schaff das bestimmt auch allein. Die Frau bleibt bei mir. Bis uns ein schwarzer Bus überholt. „Da, das ist es! Die können mich mitnehmen!“ Die Frau zögert kurz, vergewissert sich, dass ich sicher stehe, dann läuft sie hinterher, schreit, winkt. Ich will auch laufen, schreien und winken. Stattdessen übergebe ich mich ein drittes Mal. Der Bus hält an.
Dieter steigt aus. Ich kenne ihn schon, er hat mich vom Bahnhof abgeholt und ins Hotel gebracht. Er weiß, was zu tun ist, hat das Prozedere schon hundertmal mitgemacht. Doch da ist auf einmal auch Anja mit ihrem Fahrrad. Sie sagt nichts, umarmt mich. Die Kleine muss die Große festhalten. Und der laufen zum ersten Mal dicke Tränen über die Wangen.
Ich werde in eine Decke gewickelt. Mir ist nicht kalt, ich habe Schmerzen. Ich steige in den Bus auf den Beifahrersitz. Da, wo ich gestern schon Platz genommen habe. Zusammen mit Dieter werde ich nun wieder durch Düsseldorf fahren. Es ist wie ein Deja-Vu: Vielleicht ist das Rennen ja doch erst morgen. Vielleicht habe ich alles nur geträumt.
Ich träume ja oft von Wettkämpfen. Und meistens sind es leider wirklich Alpträume. Ich verpasse meinen Start, laufe in die falsche Richtung, vergesse meine Schuhe. Aber heute scheint nicht die Sonne wie am Vortag. Heute prasselt der Regen auf die Stadt ein. Es ist kein Traum. Alles ist echt und bittere Realität: Ich habe ein Rennen in den Sand gesetzt. Und jetzt?
Jetzt ist Donnerstag. Vier Tage sind vergangen. Vier Tage, an denen ich wütend war. Vier Tage, an denen ich mich geschämt habe. Vier Tage, an denen ich mindestens vierhundert Mal mit dem Laufen aufgehört habe.
Und genau deshalb mache ich weiter. Weil ich ein trotziges, störrisches und dickköpfiges Jetzt-erst-recht-Mädchen bin. Ich habe ein Rennen in den Sand gesetzt, aber Spuren kann man verwischen. Sie werden entweder vom Wasser weggespült, vom Winde verweht oder man tritt einfach selber drauf.
Außerdem habe ich es der Frau versprochen, die mich gestützt und begleitet hat, nachdem ich mein Rennen frühzeitig beenden musste. Ich kann es besser. Ich kann es besser machen, nächstes Mal, habe ich gesagt. Also wird es ein nächstes Mal geben.
Persönlicher Nachtrag: Ich habe besagte Frau zwar nach ihrem Namen gefragt, ihn mir aber vermutlich nicht richtig gemerkt. Jedenfalls finde ich nirgendwo, nicht bei Google, Facebook, Instagram oder sonst noch wo eine Jaroschka Eckert aus Düsseldorf, die etwa dreißig Jahre alt ist, schulterlanges dunkelblondes Haar hat und am Sonntag bei Kilometer 18 an der Strecke war. Sie hatte einen dunklen Mantel an und war in dem Moment einfach für mich da, hat mich getröstet und in den Arm genommen, obwohl sie mich überhaupt nicht kannte. Dafür möchte ich gerne noch einmal Danke sagen. Wenn jemand zufällig eine Idee hatte, wer die Dame gewesen sein könnte, freue ich mich über Hinweise jeglicher Art.