Es ist noch früh am Morgen. Die Sonne kriecht langsam über die Gipfel der Berge im Engadin. Philipp Pflieger tritt nach draußen an die Luft. Es ist noch ziemlich frisch, ein leichter Windzug streift durch das Tal. Erst im Laufe dieses Augusttages wird es hier so richtig warm.
Nachdem die Uhr ihr GPS-Signal gefunden hat, läuft Philipp los. Die Beine sind noch nicht ganz wach. Sie mussten über Nacht den Trainingslageralltag verkraften und sträuben sich deshalb noch ein wenig gegen die Belastung.
Doch bald wird die Atmung allmählich ruhiger, die Schritte runder, sie finden ihren Rhythmus. Der Puls schlägt gleichmäßig in einer gemächlichen Frequenz. Zum knirschenden Geräusch der Schritte auf dem Schotter gesellen sich die Vogelstimmen. Von fern ist das Brummen eines Rasenmähers zu hören, irgendwo läutet die Glocke einer Kirche. Alles fügt sich zu einem Klangteppich zusammen, der Philipp wie ein Soundtrack auf seinem morgendlichen Dauerlauf in St. Moritz begleitet.
Eigentlich braucht es keine romantisierenden Beschreibungen solcher Szenarien, um zu beweisen, dass Musik im Langstreckenlauf allgegenwärtig ist. Wie präsent Musik beim Laufen ist, erlebt jeder, der regelmäßig seine Runden dreht – und das nicht nur, wenn er sich dabei von Stöpseln im Ohr beschallen lässt.
„Ich habe das ja auch mal eine Zeitlang versucht“, gesteht Philipp, „vor allem bei regenerativen Einheiten. Aber heute mache ich das gar nicht mehr. Wenn ich laufe, dann versuche ich, die Umgebung, in der ich mich bewege, die Natur, wahrzunehmen und will es genießen, draußen zu sein. Abgesehen davon gehört Musik für mich natürlich trotzdem zum Sportleralltag: Zuhause vor harten Workouts, danach beim Entspannen oder auch vor Wettkämpfen im Hotelzimmer.“
Jene Wettkämpfe, von denen Philipp spricht, sind zumeist hochklassige Straßenrennen und leben ebenfalls von Beats aus Lautsprecherboxen, Live-Acts an der Strecke oder DJs. Da ist dann nicht mehr viel vom beschaulichen Summen der Bienen bei einsamen Dauerläufen in der Natur von St. Moritz übrig. „Klar, das ist was anderes. Aber Musik vermittelt Stimmung – und laute Musik während des Rennens gibt mir ein gutes Gefühl. Das pusht mich“, erklärt Philipp.
Geht das dann eigentlich auch andersherum? Kann der Langstreckenläufer mit seinem Sport einen Musiker mitreißen?
Der Hamburger Singer-Songwriter Alex Hirsch ist im vergangenen Jahr durch die Arbeit an einem Video-Projekt auf Philipp aufmerksam geworden und konnte auf diese Weise seinen Weg zu den Olympischen Spielen in Rio mitverfolgen: „Ich habe vorher noch nie so hautnah erlebt, wie es einem Profisportler emotional geht, der sich auf den Höhepunkt seiner Karriere vorbereitet. Was er körperlich und mental durchmachen muss. Das fand ich persönlich echt spannend und hat mich auch ein bisschen an mich selbst erinnert.“
Spannung und Faszination müssen zweifelsohne beide liefern: Der Musiker ebenso wie der Sportler. Denn sonst bleibt das aus, was sie in ihrem Tun unterstützt, worauf beide angewiesen sind: Aufmerksamkeit, Publikum, Zuschauer, Fans.
Mag sein, dass das für einen passionierten Hobbysportler, der in Ruhe und ganz für sich zum Joggen geht oder ein Gitarrenspieler, der nur hin und wieder aus Lust und Laune ein paar Saiten zupft, nicht gelten mag. Mag sein, dass sie sich damit zufriedengeben, unbeobachtet ihrer Leidenschaft nachzugehen. Aber für Philipp und Alex ist diese Leidenschaft noch etwas anderes: Ihr Beruf.
Sich dazu berufen zu fühlen, Songs zu schreiben, kann unheimlich befriedigend sein. Karrieresprünge mit dem Besteigen eines Siegerpodiums feiern zu können, macht so manchen Büroarbeiter sicherlich ein bisschen neidisch. Und doch hat ein solches Leben auch seine Schattenseiten.
Wer kauft mein Album? Erreiche ich mit meiner Musik die Leute? – Diese Fragen, die sich Alex ständig stellen muss, sind vergleichbar mit denen, die Philipp regelmäßig beschäftigen: Hält mein Körper den Belastungen stand? Bin ich zum richtigen Zeitpunkt fit genug? Musik und Langstreckenlauf bedeuten ein Risiko, einen Drahtseilakt für diejenigen, die ganz darauf setzen.
„Philipp und ich versuchen einfach, aus uns selbst etwas zu machen. Unseren Weg zu gehen. Dazu braucht es eine Menge Vertrauen in das eigene Schaffen, in das „Baby“, das man durchbringen will. Jeder von uns hat Träume, die er verwirklichen will und dabei kommt man auch in Situationen, in denen nicht alles so leicht von der Hand geht.“ Alex spricht aus Erfahrung, wenn man ihn so reden hört.
Und wenn es dann mal gar nicht mehr weitergeht? Aufgeben ist für beide keine Option. Stattdessen vertrauen Alex und Philipp auf Unterstützung. Sie haben Menschen um sich, die sie auf ihrem Weg begleiten, die an sie glauben – oder solche, die ihnen gleichgesinnt sind. Noch eine Gemeinsamkeit, die für die Musik genauso wie für den Langstreckenlauf zu gelten scheint: Zusammen macht es mehr Spaß.
Schöner Gesang hört sich doch meistens besser an, wenn er von den Instrumenten einer Band unterstützt wird. Und ein Virtuoser auf der Violine, kann sein Talent erst richtig unter Beweis stellen, wenn er von einem Orchester begleitet wird.
Eine anstrengende Trainingseinheit wird in einer Gruppe gleich viel erträglicher, wenn man sich gegenseitig zum Durchhalten motiviert. Und ein Wettkampf wäre nichts wert, würden keine Gegner an der Startlinie stünden.
„Direkte Gegner habe ich keine, aber ansonsten lassen sich doch sehr viele Gemeinsamkeiten zwischen Lauf und Musik finden“, resümiert der Sänger Alex. Ob er dann selber auch mal laufen geht? „Nein, das nicht…“, meint er, fast schon verlegen.
Aber vielleicht ist ja wenigstens Philipp ein bisschen musikalisch? „Was diesen direkten Zugang zur Musik betrifft, habe ich leider wirklich null Bezug. Ich befürchte, dass ich dafür in meiner Kindheit zu wenig Interesse hatte und jetzt der Zug dafür schon abgefahren ist. Aber sag niemals nie!“, grinst der Profiathlet.
Tatsächlich scheint es nicht viele Musiker zu geben, die noch so viel Zeit und Muße haben, um einen Marathon zu rennen – und andersherum wohl auch nicht viele Läufer, die gleichzeitig noch ambitioniert ihrer musikalischen Leidenschaft nachgehen. Da fiele einem höchstens noch der ehemalige SKI-Läufer Hansi Hinterseer ein, der nach seiner sportlichen Karriere doch den ein oder anderen Charterfolg hinlegte. Aber ob man ihn nun als ernstzunehmenden Musiker bezeichnen möchte, ist vielleicht auch ein bisschen Geschmackssache…