Ich habe keinen Fernseher. Und eigentlich finde ich das gar nicht so schlimm. Nur wenn hin und wieder eine Rechnung der GEZ in meinem Briefkasten landet, frage ich mich, wofür ich eigentlich Rundfunkgebühren bezahlen muss. Ich empfange doch gar keinen Rundfunk. Am Sonntag hätte ich allerdings nur zu gerne vom öffentlich-rechtlichen Sendeprogramm profitiert, genau genommen vom Norddeutschen Rundfunk. Der hat den Hamburg Marathon nämlich live übertragen und dieses Spektakel wollte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen. Es kommt nämlich nicht so oft vor, dass die eigene Vereins- und Trainingskollegin versucht, die Olympia-Norm zu knacken. Glücklicherweise besitze ich immerhin ein Laptop, wenn auch nicht den Neuesten. Und W-LAN hab ich, wenn auch nicht das Schnellste. Aber das macht ja nichts. Am Morgen des 17. April sollten ja vor allem die Marathonis flott unterwegs sein. Der Startschuss fiel um 9 Uhr – und hier soll meine Geschichte beginnen…
0km
Um nichts zu verpassen, platziere ich den sperrigen Rechner relativ zentral auf den Esstisch zwischen Kaffee, Müsli und Semmeln. Nachdem ich den überdimensionalen Bildschirm hochgeklappt habe, kann ich meinen Freund gegenüber schon fast nicht mehr sehen. Er trägt es mit Fassung. Manche Freundinnen schauen „Germanys next Topmodel“, seine Freundin schaut halt Marathon. Oder sie möchte zumindest Marathon schauen. Denn als sie die Veranstaltungs-Homepage aufruft, steht da nur „Error – this page is currently not available“ und sie fängt an, in ansteigender Lautstärke ihr Laptop zu beschimpfen.
Vielleicht aus Mitleid, vielleicht auch in Sorge um die Sonntagsruhe meiner Nachbarn, versucht mein technisch weitaus kompetenterer Freund, mir aus meiner misslichen Lage zu helfen. Doch weder am PC, noch an einem unserer Smartphones will die Website laden.
Geht das nur uns so? Wir finden auf jeden Fall weder auf Facebook, noch irgendwo anders Beschwerden, dass etwas mit den Live-Ergebnissen nicht klappt. „Ich glaube, da stimmt was mit deinem Internet nicht“, mutmaßt mein Freund, während er seinen leeren Teller vom Tisch räumt. Ich mache mir frustriert noch eine Tasse Kaffee. Eigentlich muss ich doch das ganze Rennen verfolgen. Immerhin will sich meine Mannschaftskollegin Anja Scherl heute für die Olympischen Spiele in Rio qualifizieren. Dafür soll sie schneller als 2:30h laufen und mir bleibt nichts übrig, als aus der Ferne mitzufiebern. Ein paar kleine Zwischenstände würden da ja nicht schaden…
5km
Was unternimmt man, wenn das Leaderboard im Internet streikt? Ganz einfach: Man setzt auf diejenigen, die gerade genauso gespannt die Ergebnisse verfolgen. Also schreibe ich einfach mal alle an, von denen ich mir sicher bin, dass sie sich genauso brennend für das Rennen im hohen Norden interessieren wie ich. Besonders zäh gestaltet sich das allerdings, wenn man keine Antworten bekommt. Scheint wohl ziemlich fesselnd zu sein das Rennen. Jedenfalls liest gerade niemand seine Whatsapp-Nachrichten. Ich werde immer ungeduldiger.
„Geh halt laufen! Bis du wiederkommst, haben die schon mehr als die Hälfte“, meint mein Freund.
„Ich will aber doch auch die Zeiten der ersten Hälfte sehen!“, entgegne ich stur.
„Aber deswegen sind die doch auch nicht schneller, Franzi.“
„Ja und?“
„Ich muss jetzt auf jeden Fall los. Ich kann dir die Zwischenstände ja von unterwegs schreiben, wenn ich besseres Internet habe als hier“…
10km
Ich überlege fieberhaft, was ich tun könnte, um an die Live-Ergebnisse ranzukommen. Mein Freund ist mittlerweile aufgebrochen und normalerweise würde ich jetzt wirklich meine kleine Laufrunde machen. Aber ich bin viel zu aufgeregt.
Ob es deswegen unbedingt die Idee beste Idee ist, überstürzt meine Sachen zu packen und ins Auto zu steigen, will ich jetzt nicht behaupten. Allerdings habe ich einen Plan geschmiedet, der mir unheimlich genial erscheint: Wenn ich meinen regenerativen Dauerlauf für heute einfach in ein Training auf dem Ergometer-Rad bei meinen Eltern umwandle, kann ich währenddessen sogar die Übertragung im NDR schauen. Bei meinen Eltern gibt es nämlich einen Hometrainer im Keller. Der ist zwar wirklich nicht besonders modern, dafür steht ein Fernseher davor…
15km
Während ich mein Auto aufsperre, höre ich das Nachrichtensignal auf meinem Handy. Es ist Caro, meine Vereinskollegin. Die Erste, die auf meinen Hilferuf nach Zwischenzeiten antwortet:
„Hey, wir schauen Marathon. Haben auch Zwischenzeiten“
„Kann ich sie haben??? Ich komm an nix ran!“
„Anja läuft ca. 3:31er Schnitt bis 15 Kilometer. Gleich ist sie beim Halbmarathon.“
Wie schnell die Zeit vergeht! Jetzt hat Anja wirklich schon fast die Hälfte geschafft. Ich bin fast ein bisschen erleichtert. Und trotzdem fahre ich viel zu schnell auf dem Weg zu meinen Eltern. Wenn ich gut durchkomme brauche ich zwanzig Minuten…
20km
Vor mir fährt ein Lastwagen mit 60km/h. Auf der Landstraße. Sonntags. Was will der da? Ich verfluche sämtliche Überholverbots-Schilder und hoffe, dass der Fahrer vor mir mein grimmiges Gesicht im Rückspiegel sehen kann.
Endlich kommt die Ausfahrt. Jetzt ist es nicht mehr weit. Außerdem hat Caro nochmal geschrieben:
„Sie wird immer schneller, jetzt hat sie schon einen 3:29er-Schnitt. Halbmarathonzeit ist 1:13:57“
Perfekt. Alles läuft nach Zeitplan: Anja ist sogar schneller unterwegs als gedacht und ich stehe endlich vor der Haustür meiner Eltern. Nur blöd, dass mir niemand aufmacht…
25km
Ohne noch länger zu warten hole ich den Ersatzschlüssel, der in unserem Gartenhaus versteckt liegt. Anscheinend ist niemand zu Hause, aber macht ja nichts.
Schnell schlüpfe ich in Sportklamotten und stürme mich mit meinem Handy und einer Wasserflasche in den Keller. Ein bisschen kühl ist es hier unten, aber mir wird sicher gleich warm werden.
Zuerst muss ich trotzdem eine schlechte Entdeckung machen: Das alte Fahrrad steht zwar noch immer an seinem Platz, der Fernseher ist dagegen verschwunden. Ich habe heute wirklich kein Glück. Wenigstens auf Caro ist Verlass:
„Die ist verrückt: 3:28er Schnitt“
Und dann zeigt mein Handy doch noch an, dass ich mit dem W-LAN meiner Eltern verbunden bin. Vielleicht geht ja jetzt endlich das Leaderboard im Internet?
Tatsächlich! Blitzschnell lädt die Seite hoch und ich kann endlich alle Erstplatzierten mitsamt 5-Kilometer-Splits und der erwarteten Zielzeit sehen.
Erleichtert setze ich mich auf den, zugegeben ganz schön ungemütlichen, Sattel des Fahrrads und strample los. Anja sammelt währenddessen fleißig Konkurrentinnen auf der Strecke ein, mittlerweile liegt sie schon auf Platz fünf…
30km
Meine Trainerin Doris hat mal erzählt, dass sie auf dem Hometrainer saß, als mein Vereinskamerad Philipp Pflieger seine Olympia-Norm beim Berlin-Marathon gelaufen ist. Sie sagt, sie ist einfach immer flotter gefahren und das allein sei der Grund, warum Philipp so schnell ins Ziel kam. Daran muss ich jetzt denken und trete ebenfalls fest in die Pedale. Außerdem aktualisiere ich im Minutentakt die Live-Ergebnisse auf meinem Handy. Jetzt ist es ja wirklich nicht mehr lange.
Meine Beine treten immer schneller. Eigentlich soll das heute ja nur ein regeneratives Training werden. Allmählich komme ich aber schon ein bisschen ins Schwitzen. Bin ich so angestrengt oder ist das die Aufregung…
!
35km
Es ist die eine Sache, über einen Marathon zu schreiben, herumzurechnen, Zeiten zu prophezeien. Man muss so ein Rennen aber auch erst einmal laufen. Deshalb hatte ich im Vorfeld zumindest versucht, meine Begeisterung im Zaum zu halten. Denn das, was Anja im Training abgeliefert hat, kann sich wirklich sehen lassen: Sie hat so hart gearbeitet und alles so konsequent umgesetzt. Deswegen war ich davon überzeugt, dass die Rio-Norm für sie auf jeden Fall machbar ist. Aber ich hab genauso schon die Geschichte von den teuflischen 35 Kilometern gehört, bei denen selbst bei absoluten Profis manchmal einfach der „Mann mit dem Hammer“ kommt. Und dann geht nichts mehr. Egal, wie gut das Training war. Egal wie vielversprechend die Vorbereitungen gelaufen sind. Dann ist es vorbei.
Ich hoffe inständig, dass es Anja nicht so gehen wird. Heute muss einfach ihr Tag sein. Bitte, bitte kommt gleich die Zwischenzeit für die nächsten fünf Kilometer…
40km
Ich kann es nicht fassen: Anja hat sich auf den dritten Rang vorgekämpft und ihre geschätzte Zielzeit liegt weit unter der Olympia-Norm von 2:30h. Jetzt sind es wirklich nur noch zwei Kilometer. Jetzt ist es schon so gut wie geschafft.
Ich überlege, was ich unternehmen könnte, um sie noch schneller ins Ziel zu bringen. Außer sie in WhatsApp mit Nachrichten wie „Lauf, Anja lauuuuf!“ vollzuspamen und noch ein bisschen kräftiger in die Pedale zu treten, fällt mir allerdings nichts ein. Aber außer mir drücken ja glücklicherweise auch noch viele andere Freunde, Verwandte und Fans ihre Daumen. Unterstützung hat Anja ganz sicher genug.
Immer wieder aktualisiere ich die Ergebnisliste. Die Siegerin ist schon seit ein paar Minuten im Ziel. Jetzt auch die Zweitplatzierte. Und Anja? Nervös behalte ich immer ein Auge auf der Uhrzeit. Sie muss vor 11.30 Uhr da sein…
42km
Und sie schafft es. Natürlich. So konsequent wie sie ihr Training in den letzten Wochen absolviert hat, ist sie nun auch ihren dritten Hamburg-Marathon gelaufen, den sie später als „den Lauf ihres Lebens“ bezeichnen wird. In dem Moment, als ihr Name endlich in der Finisher-Liste auftaucht, rutscht mir das Herz für einen kleinen Moment in die Hose: Krass, die hat jetzt die Norm für Olympia! Ich kann es noch gar nicht richtig fassen. Dann breche ich aber in Jubel aus und klatsche begeistert in die Hände. Gut, dass mich niemand sehen kann.
Denke ich zumindest. Als ich plötzlich eine Stimme hinter mir höre, zucke ich zusammen:
„Was machst du denn hier?“, fragt meine Mutter überrascht. Anscheinend hat sie mich für einen Einbrecher gehalten.
„Äh, eigentlich wollte ich Marathon schauen…“
„Ach, den Fernseher hat dein Bruder doch schon vor Monaten mitgenommen!“
Na super. Ich habe also weiterhin keinen Fernseher. Aber ich weiß ich jetzt immerhin, bei wem ich mich einladen kann, wenn Anja im August ihren Olympia-Marathon in Rio läuft!
Erfrischender Rennbericht 🙂
Vielen Dank für diesen tollen Bericht! Schön und spannend geschrieben.
Und die Leistung von Anja ist natürlich der Hammer! Glückwunsch!
Sehr schön geschrieben!