Die Leichtathletik wird reformiert, und der Anfang wird bei den Gehern gemacht: Am 10. März wird der Leichtathletikweltverband IAAF darüber entscheiden, das 20 und 50 Kilometer Gehen abzuschaffen und durch 10 und 30 Kilometer zu ersetzen. Zusätzlich soll ein elektronischer Kampfrichter eingesetzt werden, der mithilfe eines Chips automatisch erkennt, ob ein Geher Bodenkontakt hat. Einiges ist zu diesem Antrag der Geherkommission im Weltverband schon geschrieben worden, auch manche Freunde des Gehsports äußern sich positiv. Ich möchte einige der Argumente für eine Verkürzung der Strecken aufgreifen und darlegen, warum ich sie für irregeleitet halte.
Zunächst zu den Fakten: Die sogenannte IAAF Race Walking Commission, in der ehemalige Gehergrößen wie die Olympiasieger und Weltmeister Robert Korzeniowski, Jefferson Perez und Maurizio Damilano sitzen, hat im vergangenen Jahr eine internationale Umfrage zu möglichen Reformen im Gehen gemacht. Die Ergebnisse wurden nie veröffentlicht, aber man munkelt, dass sich die Mehrheit der Teilnehmer für die Beibehaltung der klassischen Gehdistanzen ausgesprochen hat. Im April 2017 wäre es fast schon anders gekommen: Da wurde bekannt, dass die IAAF heimlich eine Änderung durchdrücken wollte, die es in sich hatte. Schon ab der WM 2019 sollte es kein 20 und 50 Kilometer Gehen mehr geben, sondern nur noch eine Halbmarathondistanz und eine 4×5000-Meter Mixed-Staffel. In kurzer Zeit formierter sich Widerstand durch Geher rund um die Welt und die IAAF lehnte die Pläne schließlich ab. Schon damals war der Vorschlag von der Geherkommission gekommen.
Fast zwei Jahre später hat diese nun im Janaur einen neuen Plan gefasst. Anders als 2017 will sie an jeweils zwei Strecken für Männer und Frauen festhalten. Doch anders als bisher sollen die Strecken nicht 20 und 50, sondern 10 und 30 Kilometer lang sein – sowohl bei Weltmeisterschaften als auch bei Olympischen Spielen. Die Langstrecke soll schon bei der WM 2021 verkürzt werden, die Kurzstrecke frühestens 2022. Und das hängt wiederum davon ab, ob der elektronische Kampfrichter funktioniert – der soll in Zukunft nämlich erkennen, ob die Geher Bodenkontakt haben. Die Teilnehmer sollen für ihre Schuhe eine Einlegesohle bekommen, die über Druckmessung merkt, ob die Schuhe den Boden berühren. Wenn dies nicht oder zu lange nicht der Fall ist, meldet ein Chip dies an die menschlichen Kampfrichter. Die Technologie wird gerade entwickelt, erprobt wurde sie noch nicht, trotzdem soll sie die Zukunft sein.
Doch warum eigentlich das Ganze? Das ist nicht so eindeutig. Die Kommission begründet den Schritt damit, dass er alternativlos sei, um das Gehen zu retten. Man munkelt, dass das IOC Druck auf die IAAF macht und diese die Kommission zu Veränderungen gedrängt hat. Der Kontext ist ein größerer: Das IOC will die Olympischen Spiele insgesamt verändern. Kürzere Wettbewerbe, mehr Trend-Sportarten, mehr Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern. Dies sei notwendig, um die Spiele für junge Menschen attraktiver zu machen, die nur eine Aufmerksamkeitsspanne von maximal zwei Stunden haben und mit klassischen Sportarten wie Ringen oder Kugelstoßen nichts anfangen können. Zumindest wird das immer so kommuniziert.
Von konkreten Plänen bekommt man kaum etwas mit. Es wird nur immer wieder mal was durchgesteckt, wenn ein Eingeweihter etwas ausplaudert, anonym, und ohne dass sich die Aussagen verifizieren lassen. So war es auch bei den Geherreformen 2017, die nur durch einen anonymen Hinweis im Vorfeld bekannt und nach Protesten doch nicht verabschiedet wurden. Dieses Jahr ist es anders: Am 6. Februar veröffentlichte die IAAF die neuen Pläne auf ihre Internetseite, es wird also erstmals offiziell, dass es Reformen geben soll (siehe Link unten). Es wurde gemunkelt, dass auch diese eigentlich verschwiegen werden sollten, auch auf Druck des Präsidenten Sebastian Coe. Weil sie dennoch bekannt wurden, sei die IAAF in die Offensive gegangen.
Warum die Geherkommission gerade diese Veränderungen vorgeschlagen hat, begründet sie mittlerweile öffentlich. Sie wolle die Zahl von zwei Wettbewerben bei Männern und Frauen unbedingt beibehalten, müsse früher oder später die Länge der Wettbewerbe, dem allgemeinen Trend folgend, aber kürzen. Um selbst das Heft in der Hand zu haben, wolle sie selbst die Änderungen voranbringen, anstatt sie dem IOC zu überlassen. Man habe sich schließlich für 10 und 30 Kilometer als neue Strecken entschieden, weil 10 Kilometer auch im Stadion ausgetragen werden könnten und für Zuschauer attraktiver seien als die 20 Kilometer. Und die 50 Kilometer seien für die Fernsehübertragung einfach zu lang. 30 Kilometer dagegen würden eine Dauer von knapp mehr als zwei Stunden haben, also ähnlich wie der Marathonlauf, das 10-Kilometer-Freiwasserschwimmen oder der 50-Kilometer-Skilanglauf bei den Winterspielen. Damit könne man dem Argument begegnen, die Gehdisziplinen seien für Olympische Spiele zu lang.
Die Einführung eines elektronischen Kampfrichters hat die Kommission seit ein paar Jahren im Visier. Sie begründet den geplanten Schritt damit, dass das Gehen oft dafür kritisiert wird, dass Entscheidungen über Disqualifikationen derzeit oft nicht nachvollziehbar seien. In der Tat ist das ein wunder Punkt, den das Gehen begleitet, seit es im Jahr 1906 als olympischer Wettkampf erfunden wurde. Es gibt zwei Regeln, die alle Geher beachten müssen: Sie müssen immer mit mindestens einem Fuß auf dem Boden sein und sie müssen beim Aufsetzen des Fußes das entsprechende Bein vollständig strecken, es darf in dem Moment also keine Beugung im Knie erkennbar sein. Ob die Regeln eingehalten werden, müssen die Kampfrichter mit bloßem Auge beurteilen. Bei Verstößen können sie ermahnen oder einen Antrag zur Disqualifikation stellen. Tun dies drei verschiedene Kampfrichter für einen Geher, ist dieser disqualifiziert. Das Gebot der Kniestreckung wird mit einer Einlegesohle kaum zu überprüfen sein, wohl aber das des ständigen Bodenkontakts. Wenn es ein objektives Kriterium gebe, so die Argumentation der Kommission, werden die Zuschauer das Gehen als fairer wahrnehmen.
Die Vorschläge der Kommission haben in Geherkreisen und teilweise darüber hinaus Wellen geschlagen, sie stoßen in der Öffentlichkeit vor allem auf Ablehnung. Wie vor zwei Jahren haben Geher aus aller Welt zu Protesten aufgerufen, unter dem Hashtag „Savetheracewalking“ posten sie Bilder von sich, auf denen sie ihre Arme kreuzen, mit der linken Hand zeigen sie alle fünf Finger, die rechte Hand ist geschlossen – das soll eine „50“ symbolisieren und für den Erhalt des 50 Kilometer Gehens stehen. Warum dieser Protest gegen die Vorschläge der, sozusagen, eigenen Kommission, die das Gehen nach eigener Aussage ja gerade retten will? Ist es Sturheit, fehlender Realitätssinn der Athleten?
Ich glaube, dass die Kommission in ihrem Eifer, das Gehen zu retten, in Wahrheit dessen Grab schaufelt – und es selbst nicht merkt. Denn der „Trend“ der kürzeren Strecken ist ein Missverständnis. Es ist nicht zu leugnen, dass die beliebtesten olympischen Wettbewerbe die sind, die am kürzesten dauern, allen voran der 100-Meter-Lauf. Beliebt in dem Sinne, dass sie die höchsten Einschaltquoten haben und, was damit zusammenhängt, sich am besten vermarkten lassen. Leider wird daraus oft der falsche Schluss gezogen, dass längere Wettbewerbe für weniger Begeisterung sorgen als kürzere. Es ist entgegen dieser Annahme sogar ein gegenläufiger Trend zu beobachten: Regelrecht boomende Events sind seit ein paar Jahren große Marathonläufe und der Triathlon, und dort insbesondere die Langstrecke. Den Dopingskandalen Anfang des Jahrtausends zum Trotz freut sich auch die Tour de France immer noch großer Beliebtheit, und der in den USA ultrapopuläre Super Bowl dauert nicht selten mehrere Stunden. Ein Trend zu immer kürzeren Veranstaltungen lässt sich daraus nicht gerade ablesen. Der Grund für die höheren Zuschauerzahlen beim 100-Meter-Finale als beim Marathonlauf lässt sich logisch erklären: Wer sich bei Olympischen Spielen für kurze Wettbewerbe interessiert, schaut sich die langen nicht an. Ein Langstrecken-Freak schaut sich aber trotzdem den 100-Meter-Lauf an. Denn er ist einfach so kurz, dass man ihn noch eben mitnehmen kann, auch wenn man sich nur am Rande dafür interessiert.
Der Glaube, man würde Ausdauerwettkämpfe populärer machen, indem man sie weniger ausdauernd macht, ist ein Irrglaube. Wer für Ausdauer nicht viel übrig hat, der hat für Ausdauer eben nicht viel übrig. Egal ob der Wettkampf zwei, drei oder vier Stunden dauert. Ein Ausdauer-Freak sagt sich dagegen: Je länger, desto besser. Selbst er schaut sich den Wettkampf nicht unbedingt in voller Länge an. Das ist auch gar nicht nötig, weil sich die Spannung über einen langen Zeitraum aufbaut. Insbesondere auf der ersten Rennhälfte passiert nicht so viel, dass man dort alles sehen müsste. Deshalb läuft das Argument ins Leere, dass lange Wettkämpfe für das Fernsehen nicht geeignet seien. Es überträgt ohnehin nicht die ganze Zeit und muss es auch gar nicht. Wichtiger ist eher, dass es an den richtigen Stellen überträgt, das wären beim 50 Kilometer Gehen zum Beispiel etwa die letzten 20 Kilometer. Wer in dieser Zeit als Ausdauer-Freak einen Geherwettkampf mit allen Höhen und Tiefen verfolgen kann, lässt sich in den Bann dieser in vielerlei Hinsicht einzigartigen Sportart ziehen. Der Freak war bisher die Nische, in die das Gehen vordringen konnte.
Zugegeben war das Gehen nie mehr als eine Randerscheinung. Die Mehrheit hat sich schon immer gefragt, wofür es einen Wettbewerb braucht, der wie Laufen ist, nur mit zwei Einschränkungen. Doch durch die 50 Kilometer ist es immerhin gelungen, Inspiration für eine nicht unbedeutende Minderheit zu sein, die die Extremausdauer dieser Disziplin schätzt, die selbst den Marathonlauf in den Schatten stellt; zusätzlich zu den technischen Herausforderungen, die sich aus dem Regelwerk ergeben. Die Olympischen Spiele leben von ihrer Vielfalt, nicht von Einfalt, die sich ergibt, wenn alles einem scheinbaren Trend folgen muss. Jeder Wettbewerb hat seinen eigenen Charakter, und er behält seine Berechtigung, indem der Charakter erhalten bleibt. 50 Kilometer Gehen steht wie kein anderer Wettbewerb bei Olympischen Spielen für extreme Ausdauer, bei der die Teilnehmer zusätzlich technischen Anforderungen standhalten müssen. Das 20 Kilometer Gehen ist die Vereinbarung aus dem schnellstmöglichen Tempo, das den Anforderungen noch entspricht, und dieses über einen längeren Zeitraum auch noch sauber durchzuhalten. Beide Strecken haben sich bei Olympischen Spielen bewährt: Die Langstrecke seit 1932, die „Kurzstrecke“ seit 1956.
Mit der Verkürzung des 50 Kilometer Gehens auf 30 Kilometer würde es seinen Reiz verlieren, denn es wäre unter den Ausdauerdisziplinen kein König mehr. Und die 10 Kilometer, auch noch in Kombination mit einem elektronischen Kampfrichter, wären ein Trojanisches Pferd. Denn das Gehen würde unsauberer werden, kaum noch Geher würden die Bodenkontakt-Regel einhalten. Zwar ist das auch bei den 20 Kilometern schon so, doch dort ist das in den meisten Fällen nur in der Zeitlupe zu sehen. Und weil der Maßstab das Augenmaß ist, gilt das dann nicht als Regelverstoß. Bei den 10 Kilometer würden selbst die offensichtlichen Verstöße zunehmen. Und beim elektronischen Kampfrichter wäre erstmal die Frage zu klären, wie streng er angewendet wird. Wird mit ihm jeder Verlust des Bodenkontaktes sanktioniert, wird es Disqualifikationen hageln; oder die Geher müssten ihre Technik so umstellen, dass sie extra langsamer gehen, um bloß noch die Regeln einzuhalten. Das wäre dann etwa so spannend, als würde man im Fußball jede kleine Rempelei gleich mit einer roten Karte bestrafen.
Mir ist die Kritik an der derzeitigen Situation des Gehens bewusst. Viele Zuschauer bemängeln, dass die Urteile über Verwarnungen zu subjektiv seien und dass sie oft nicht nachvollziehen können, warum Entscheidungen so oder so ausfallen. Ich halte es deshalb durchaus für attraktiv, die Chancen für einen elektronischen Kampfrichter auszuloten. Aber dafür müssen erst einige Fragen geklärt werden: Wie genau soll er technisch funktionieren? Bekommt jeder eine einheitliche Einlegesohle, oder ist es möglich, sie an individuelle Erfordernisse und Schuhe anzupassen? Wer bezahlt die Technologie? Wird sie die Kampfrichter bei der Bodenkontakt-Regel ersetzen oder nur unterstützen? Wie wird die Technik eingestellt, wird sie bei jedem Bodenkontaktverlust einen Regelverstoß melden oder erst nach einem bestimmten Zeitintervall, also wenn der Geher zum Beispiel länger als eine bestimmte Zahl Tausendstelsekunden „schwebt“? Und dann muss das ganze ja noch in der Praxis erprobt werden. Das alles soll passieren, aber erst, nachdem über die Einführung entschieden wird. Ich halte es für schwierig, mich für etwas zu begeistern, wovon ich noch gar nicht weiß, wie es funktioniert soll, und vor allem ob es das dann auch wirklich wird.
Die Welt ändert sich, und man sollte immer offen für Veränderungen sein. Bei jeder Veränderung muss aber die Frage erlaubt sein, ob sie überhaupt sinnvoll ist, oder gar kontraproduktiv. Eine Verkürzung der Strecken bei Ausdauersportarten halte ich für kontraproduktiv. Im konkreten Fall finde ich eines besonders absurd: Unabhängig von den genannten Reformbestrebungen wird bald darüber entschieden werden, ob bei den Olympischen Spielen 2020 erstmals auch ein Wettbewerb im 50 Kilometer Gehen für Frauen ausgetragen wird. Bei Welt- und Europameisterschaften gibt es diesen Wettkampf schon. Wenn die Pläne der Geherkommission angenommen werden, wäre das dann das erste und letzte mal.
Die offizielle Version der IAAF: https://www.iaaf.org/news/press-release/race-walking-committee-recommendations