In den Monaten vor großen Ereignissen wie Olympia, WM und EM werden wir Leichtathleten zu Normjägern und konzentrieren uns voll darauf, die für die Qualifikation geforderten Zeiten und Leistungen zu erreichen. Plötzlich steht zumindest bei den Marathonläufern nicht mehr der Kampf um Platzierungen so sehr im Vordergrund, sondern vor allem das Erreichen einer bestimmten Zeit. Und diese Zeit hat es diesmal in sich: 2:11:30 Stunden werden für die Olympischen Spiele in Tokio und Sapporo gefordert – das ist nochmal zweieinhalb Minuten schneller als die Norm für Rio 2016.
Dies ist ein großer Druck für alle, die sich ihren Traum von einer Olympiateilnahme erfüllen wollen. Ich wusste, dass es nach meiner verletzungsbedingt verpassten Teilnahme 2016 nun nochmal ein ganzes Stück schwerer wird und stellte mich dementsprechend darauf ein. Während meiner langen Leidenszeit zwischen 2016 und 2019 mit zwei schweren Operationen habe ich mir Stück für Stück ein starkes Netzwerk vor allem im gesundheitlichen Bereich aufgebaut. Im Zuge meiner ersten Operation und Zwangspause knüpfte ich den Kontakt zum Stahlhändler Klöckner & Co, wo ich bis heute in einer außergewöhnlich sportfreundlichen Position als Werkstudent arbeite und habe in den zwei längeren Verletzungsphasen 2016 und 2018 mein Studium so weit vorangetrieben, dass ich kurz vor dem Abschluss stehe. Zudem lernte ich Johannes Eisinger, den Leiter des Rehazentrums in Herxheim bei Landau, kennen. Über Johannes kam ich zu Ärzten, die mir in den schwierigen Jahren wirklich weiterhelfen konnten, und ich nutze regelmäßig die wunderbare Infrastruktur des Rehazentrums für Trainingslager und zur Erholung nach gesundheitlichen Rückschlägen. Mittlerweile ist er ein enger Freund von mir.
Nach meiner zweiten Operation kamen wir mit Hilfe des Orthopädie- und Schuhtechnikers Michael Möller und seinem Team aus Münster endlich hinter den Auslöser meiner lange anhaltenden Fersenprobleme und arbeiten seitdem in akribischer Kleinstarbeit zusammen. Jedes Paar meiner Lauf- und Freizeitschuhe wird nun individuell an meine Füße angepasst und gemeinsam haben wir durch ständiges Feedback ein hochspezialisiertes Einlagen- und Polsterungssystem für die Schuhe entwickelt. Zudem setze ich nun neben der bewährten Physiotherapie am Wattenscheider Olympiastützpunkt auch auf den Osteopathen Hems Bungenberg de Jong in Dortmund, der meinen Oberkörper optimiert, während Möller in Münster an den Füßen ansetzt. Zudem haben wir mittlerweile genug Erfahrung bei der Trainingsgestaltung gesammelt, sodass mein Coach Tono die Trainingspläne Jahr für Jahr perfektionieren konnte und wir Kenia als effektivsten Ort für Höhentraining identifiziert haben. Auch aus meinen bis dato drei gelaufenen Marathons konnten wir jedes Mal Lehren ziehen. Hinzu kommen natürlich meine immer stärker werdende Trainingsgruppe, die mittlerweile die stärkste in Deutschland ist, und einige private Investitionen wie zum Beispiel eine Sauna in meinem Zimmer, in der ich so oft wie möglich regeneriere, oder ein Lymphamat.
Diese verschiedenen mit den Jahren gewachsenen Puzzlestücke haben sich am vergangenen Wochenende nun zum ersten Mal so richtig zusammengefügt, sodass ich beim Sevilla Marathon den lang ersehnten und überfälligen Sprung nach vorn machen konnte. So verbrachte ich nach einem erfolgreichen Kenia-Trainingslager die letzten Tage vor Sevilla in Herxheim, um hier durch drei Physiobehandlungen am Tag topfit zu sein. Zudem haben wir in Münster meine Wettkampfschuhe so optimiert, dass ich barfuß mit ihnen laufen konnte, sodass die sensomotorischen Einlagen noch besser arbeiten konnten.
Während in Köln noch ein stark verkrampfter tibialis posterior-Muskel für Probleme sorgte, hat die anschließend neugebaute Einlage mit entsprechender Stütze in Sevilla perfekt funktioniert, sodass dieser Muskel nach dem Marathon einer der lockersten im ganzen Körper war. Statt der schwer zu greifenden Standard-Trinkflaschen, durch die ich in Köln meinen Kopf beim Laufen weit in den Nacken legen musste und mich ständig verschluckte, setzte ich nun auf Soft-Flask-Trinkflaschen, mit denen es deutlich angenehmer war und die viel besser in der Hand lagen. Zudem spielte sicherlich eine Rolle, dass ich den psychischen Druck gegen 0 gedrückt habe. Da ich ursprünglich nur als Pacemaker in Erscheinung treten wollte und mit einem April-Marathon kalkuliert hatte, wäre es in Sevilla unproblematisch gewesen, bei Problemen auszusteigen und den Wettkampf in einen Trainingslauf umzuwandeln. Diese Situation empfand ich als sehr angenehm. Auch kleine Umstellungen im Training – wie das Vorziehen des 40 Kilometer-Longruns um einige Tage, die Abkehr von 4er-Belastungsblöcken hin zu maximal zwei harten Tagen in Folge mit bewusst ruhigen Erholungstagen von oft nur 15 Kilometern Umfang und die Reduzierung des Taperings auf eine Woche lag mir deutlich besser.
Die beiden letzten Wochen vor dem Tapering:
Die Zeit von 2:10:18 war dann aber doch noch etwas mehr als ich mir erträumt hatte, denn eigentlich habe ich damit mein Karriereziel „Marathon in 2:10 und Olympia“ bereits erreicht – falls die Zeit am Ende auch für die tatsächliche Nominierung reichen sollte und ich mich nicht verletze. Hier kann ich mittlerweile zum Glück auf ein sehr stabiles Umfeld zählen. So hatten die letzten Jahre doch noch etwas Gutes.